Süddeutsche Zeitung

Ukraine-Pop:Party in der Konfliktzone

Die beim Münchner Trikont-Label erschienene Compilation "Borsh Division" zeigt am Beispiel der Populärmusik-Szene die kulturelle Vielfalt der Ukraine

Von Christian Jooss-Bernau

Sie sang englisch, tanzte stampfend in einem Kostümchen aus Leder und Pelzstückchen. "Wild Dances" hieß der Song mit dem Ruslana 2004 den Eurovision Song Contest gewann. Abgesehen von diesem TV-Moment ist die ukrainische Pop-Musik nicht eben ein Exportschlager. Später engagierte sich Ruslana in der Maidan-Bewegung. Yuriy Gurzhy fand ihren Eurovisions-Auftritt eigentlich recht stark. Kitschig, selbstverständlich, aber trotzdem habe sie es geschafft, Volksmusik in diese Veranstaltung zu schmuggeln.

Gurzhy selbst hört sicher andere Musik. Wer seine Compilation "Borsh Division. Future Sound of Ukraine", die er für das Münchner Trikont-Label zusammengestellt hat, einlegt, erfährt, wie die Ukraine aktuell so klingt: Chaos-Ethno-Trance mit Dakhabrakha, Dancehall von Raggasapiens, Elektrovolksmusik von OMFO, Vivienne Mort mit Gothic-Vaudeville, Tanzboden-Feger von der Hudaki Village Band und jiddische Tränen von Julian Kytasty & Michael Alpert: Die CD misst die Größe der Wissenslücke und füllt sie mit zeitgenössischer Musik. Zu hören ist die Vielfalt eines von vielen Ethnien geprägten Landes, das in der internationalen Wahrnehmung auf eine Konfliktzone verkleinert wird.

Der Refrain ist ein Gitarrenriff mit der Überzeugungskraft einer Alarmsirene. Man kann nur ahnen, was der Sänger von Zhadan & Sobaki da wie eine Druckmaschine an Text auswirft. Ein Nachrichtenstrom: "Radio Kharkiv" heißt die Nummer, einer von 16 Songs auf "Borsh Division". Charkiw ist die zweitgrößte Stadt des Landes - im Nordosten. Hier lebt der Sänger Serhij Zhadan, von dem in Deutschland im letzten Jahr auch bei Suhrkamp der Roman "Mesopotamien" erschienen ist, der in seiner Heimatstadt spielt. Yuriy Gurzhy ist ebenfalls in Charkiw aufgewachsen, kam in den 90ern mit seinen Eltern nach Deutschland und lebt heute in Berlin. Zusammen mit Wladimir Kaminer kennt man ihn als Kopf hinter der "Russendisko"; Rotfront heißt seine Band, mit der er seit über zehn Jahren Balkan, Pop, Ska, Klezmer, Rembetiko und Party zusammenbringt. Gerade war Gurhzy wieder in Charkiw und hat mit Zhadan & Sobaki Songs für ein kommendes Album aufgenommen.

Die Frage, ob sich der 40-jährige Gurzhy in seiner Kindheit in sowjetischen Zeiten als Russe oder Ukrainer gefühlt habe, beantwortet er unerwartet: "Zwischen Russen und Ukrainern habe ich damals kaum einen Unterschied gespürt, weil alle russisch sprachen. Aber mir war spätestens seit den ersten Tagen in der Schule klar, dass ich Jude bin. Das war ein Thema." Bis zum Zweiten Weltkrieg war die jiddische Sprache selbstverständlicher Bestandteil der speziellen ukrainischen Kulturmischung. Yuriy selbst ist mit dem Russischen aufgewachsen - in der Ostukraine war das seinerzeit völlig normal und für Gurzhy ein Ergebnis der Russifizierung.

Gurzhy ist bei heiklen Themen ein diplomatischer Gesprächspartner. "Verallgemeinerungen finde ich problematisch", sagt er. Genau so geht er auch in ein Gespräch über die aktuelle politische Lage. Die Grenze seiner Beherrschtheit markiert die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim durch Russland. "Seit dem Zweiten Weltkrieg empfindet man Nazismus, Faschismus, Nationalsozialismus - egal wie wir das nennen - als das Schlimmste was einem Land passieren kann. Zu Recht. Aber was die russische Propagandamaschine geschafft hat, ist, den Eindruck zu vermitteln, dass das was in der Ukraine stattfindet eine faschistische Bewegung ist", sagt er. In Russland sieht Gurzhy deutlich stärkere nationalistische Tendenzen. Die Maidanbewegung werde in der Ukraine heute eine "Revolution der Würde" genannt, auf jeden Fall sei es eine Bewegung, die sich gegen Korruption und die Gespenster der sowjetischen Vergangenheit gerichtet habe. Man könnte die CD "Borsh Division", eine Compilation der kulturellen Vielfalt, als Statement gegen Nationalismus hören, aber Gurzhy möchte das gar nicht zu seinem Thema machen. Er will sich nicht verteidigen müssen, gegen Nationalismusvorwürfe, sieht sich nicht in der Pflicht, Verdächtigungen zu entkräften.

An das, was in Sowjetzeiten auf Platte in der Ukraine veröffentlicht wurde, hat er nicht die besten Erinnerungen: "Wir fanden das alles scheiße. Ich war halt ein Maximalist." Damals mussten Bands erst einmal an der Zensur vorbeikommen. Rückblickend hat Gurzhy erkannt, dass auch diese Gruppen ein Album wie "Their Satanic Majesties Request" oder Led Zeppelin gehört hatten. Die Inspirationen wurden eben in Volksstücke geschmuggelt, um systemkonform durchzurutschen.

Als Gurzhy seine erste Band gründete, hatte er über Punk nur gelesen. Nach etwa zwei Monaten Probe in der Schule kam aus dem Freundeskreis die Nachricht, man sei an eine Punkplatte gekommen. Das gemeinsame Hören war ein Schock. Die Platte war allerdings auch nicht von den Sex Pistols, sondern von Joy Division - ihr zweites, elektronisches Album. Diese nur wie durch eine Wand wahrgenommene westliche Szene war im paradoxen Ergebnis eine Bereicherung für die ukrainische Popmusik, was sich so ähnlich auch in anderen osteuropäischen Ländern beobachten lässt. Selbst auf Gurzhys Sampler, der die aktuelle Lage zeichnet, ist das eigentlich in allen Stücken zu hören. Man blickt nach England oder Amerika, aber gleichzeitig ist da die hart erarbeitete Freiheit, das, was nicht passen will, durch Eigenes zu ersetzen.

Immer mehr Bands in der Ukraine singen mittlerweile ukrainisch. Deutlich zu spüren ist ein Drang nach neuem Selbstwertgefühl. Gurzhy macht aktuell keine Russendisko mehr, sondern Party in Berlin unter dem Titel "Born in UA". Am 14. Mai steigt in Stockholm das ESC-Finale. Für die Ukraine tritt die Krim-Tartarin Jamala an, mit "1944", einem Lied über die Deportation ihres Volkes unter Stalin. Um aktuelle Entwicklungen geht es nicht - und gerade das, was nicht gesungen wird, glaubt man umso deutlicher zu hören.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2016
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