Ein Jahr Ukraine-Krieg:Doktorprüfung per Videocall aus dem Fluchtauto

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Uni-Rektorin Maria Pryshlak: Seit dem russischen Angriff haben sich ihre Aufgaben an der Ukrainische Freien Universität in München drastisch verändert.

Uni-Rektorin Maria Pryshlak: Seit dem russischen Angriff haben sich ihre Aufgaben an der Ukrainische Freien Universität in München drastisch verändert.

(Foto: Stephan Rumpf)

In München befindet sich die einzige Hochschule außerhalb der Ukraine, an der auf Ukrainisch gelehrt wird. Als der Krieg ausbrach, musste sie viele Dozenten und Studierenden aus der Ukraine zurückholen. Über ein Jahr im Ausnahmezustand.

Von Andrea Schlaier

Erst hat die Prüfungskommission im Videocall gar nichts gemerkt. Irgendwann ist dann aufgefallen, dass der Doktorand sein Kolloquium nicht von einem Schreibtisch aus hält, sondern gerade im Auto sitzt - mit Frau und Kind auf der Flucht. Es sind die Tage kurz nach Putins Überfall auf die Ukraine vor gut einem Jahr. "Er ist jetzt hier, dieser Student", sagt Maria Pryshlak. Die Rektorin der Ukrainischen Freien Universität (UFU) erzählt die Geschichte in einer kleinen Sitzgruppe ihres Büros in München. "Die, die hier ankommen, haben einen starken Sinn dafür, wie sie anderen helfen können. Es ist wunderbar."

Der Student aus dem Auto hat mittlerweile seinen Doktor in internationalem Recht und gibt an der UFU in München Kurse für andere Studenten über europäisches Finanzrecht. Und: Er "hat uns geholfen, ein Hilfezentrum für Flüchtlinge aufzubauen und hilft Geflüchteten bei Ämtergängen", berichtet Pryshlak.

Die UFU ist die einzige Hochschule außerhalb der Ukraine, an der auf Ukrainisch gelehrt wird. Gegründet wurde sie 1921 in Wien. Nachdem der erste ukrainische Nationalstaat zerfallen war, zog man noch im selben Jahr nach Prag weiter, wo viele Ukrainerinnen und Ukrainer im Exil lebten. Als sich 1945 die Rote Armee der Stadt näherte, flüchteten die Wissenschaftler der UFU in die sicher scheinende amerikanische Besatzungszone nach München. Und sie blieben bis heute. Eine Hochschule von Geflüchteten also.

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Die Studierendenzahl hat sich seit dem Angriff Russlands an der Ukrainischen Freien Universität deutlich erhöht.

Die Studierendenzahl hat sich seit dem Angriff Russlands an der Ukrainischen Freien Universität deutlich erhöht.

(Foto: Stephan Rumpf)

An der Nymphenburger Barellistraße können hier für 600 Euro Studiengebühr im Semester Abschlüsse in Staats- und Wirtschaftswissenschaften, Ukrainistik und Philosophie gemacht werden. Vor dem 24. Februar 2022, als Putins Truppen ins Nachbarland einmarschierten, waren 220 Studenten eingeschrieben. In immer mehr Universitäten der Ukraine bricht seitdem der Lehrbetrieb weg. Unablässig wollen neue Studierende an die UFU. Ohne Bildung haben sie keine Zukunft, sagt die Rektorin. "Weil sie nicht wissen, wo sie künftig sein werden, wollen sie den sehr westlichen Stil der Bildung, die wir ihnen geben."

Das Leben an der Universität hat sich komplett verändert. Direkt nach dem russischen Überfall war an Lehre nicht zu denken. "Wir mussten Studenten und Professoren aus der Ukraine rausholen", sagt Pryshlak. Viele hatten sich in Corona-Zeiten vom Heimatland aus zugeschaltet; man musste nicht im teuren München leben, um weiter zu studieren. Dann kam der Krieg: "Wir waren dauernd in Kontakt mit Leuten, die Busse, Züge und Autos in den Westen organisierten." Einer der Professoren saß mit Frau und Schwiegermutter drei Monate lang ohne Licht im Keller. "Wir haben ihn kürzlich rausgekriegt. Die ganze Familie ist traumatisiert."

Ein Jahr später sind nun 474 Studierende an der UFU. Das ist allerdings nicht die ganze Rechnung, so die Rektorin: "250 warten darauf, dass sie zu uns kommen können und 100 weitere schaffen es nicht aus der Ukraine heraus."

Nadiia Khomanchuk lebt seit 2014 in München und war vor einem Jahr noch UFU-Doktorandin. Anfang Februar 2022, wenige Tage vor dem russischen Überfall, schilderte sie der SZ ihre Angst vor einem Angriffskrieg, erzählte vom Weihnachtsfest 2021 daheim in Lwiw im Westen der Ukraine. Familie und Verwandte hatten in diesem Winter Ausschau gehalten nach Bunkern und Kellern, in denen sie sich vor Bomben retten könnten. "Es ist alles so gekommen, wie wir befürchtet haben", sagt die junge Sprachwissenschaftlerin heute.

Ihr Vater, ein Militär, ist vergangenen Sommer 60 geworden - allein das habe ihn davor bewahrt, in den Krieg ziehen zu müssen. "Am 24. Februar waren wir trotzdem geschockt und wussten in München erstmal gar nicht, was wir machen sollten." Die Maxime der ersten Stunde: "Erst die Familie, dann die Ukraine." Für Khomanchuks Mutter kam eine Flucht nicht infrage: "Wir verlassen unsere Stadt nicht!"

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Nadiia Khomanchuk war vor einem Jahr noch Doktorandin an der UFO. Ihre Familie lebt im Westen der Ukraine.

Nadiia Khomanchuk war vor einem Jahr noch Doktorandin an der UFO. Ihre Familie lebt im Westen der Ukraine.

(Foto: Nadiia Khomanchuk)

Kurz nach Kriegsbeginn erreicht die junge Wissenschaftlerin ein Hilferuf aus Odessa: Der Bruder einer Freundin fragte nach Rettungswagen, um Verletzte in Sicherheit bringen. "Unser erster Rettungswagen ist am 28. Februar von München losgefahren", sagt Khomanchuk. Seither hat sie mit Kommilitoninnen einen nach dem anderen aufgetrieben und in die Heimat geschickt, inzwischen sind es 23.

Am 21. Februar wird Nadiia Khomanchuk 30. Diesen besonderen Geburtstag wollte sie eigentlich daheim feiern, in Lwiw, bei den Eltern. "Meine Mutter ist dagegen. Sie hat Angst, dass am 24. Februar wieder was passiert. Vielleicht fliegen die Raketen dann aus der Nähe. Aus Belarus."

Nicht nur Studierende haben im vergangenen Jahr Zuflucht an der ukrainischen Uni gesucht. Rektorin Maria Pryshlak berichtet von all den anderen Flüchtlingen, die seitdem nach München kommen und nach allem "Ukrainischen" Ausschau halten - und dabei auf die UFU stoßen. "Sehr viele traumatisierte Menschen sind zu uns gekommen. Wir haben für sie gekocht und versucht, Räume und Wohnungen zu finden, damit sie und ihre Kinder erstmal zur Ruhe kommen können."

Ihre Erfahrung dabei? "Die Bevölkerung von München war überragend", sagt Pryshlak. Doch trotz der vielen Angebote gebe es immer noch Studierende in Gemeinschaftsunterkünften. "Es ist ein Problem, zu studieren, wenn du Kinder, Familien, Bett an Bett an Bett hast." Überhaupt das Studieren. In der Barellistraße ist daran für die nun über doppelt so vielen Studierenden nicht mehr zu denken.

Die Unternehmen Meag und Münchner Rück haben der Uni vergangenen Mai aus der Not geholfen und für zwei Jahre knapp 1400 Quadratmeter Bürofläche in ihren Räumen am "Münchner Tor" in der Parkstadt Schwabing zur Verfügung gestellt. Ein Ort zum Durchatmen. Einfach nur Sitzen und Arbeiten. Pryshlak nennt es einen "Raum, der die Stimmung hebt". Zahlen muss die Hochschule ausschließlich die Betriebskosten. Die bestreitet sie auch aus den 100 000 Euro, die der Freistaat ihr hat zukommen lassen.

In den Kursen der UFU sitzt eine traumatisierte Generation. "Viele Studenten brauchen jemanden, mit dem sie reden können", sagt die Hochschul-Chefin. Bei den Psychologen von der Fakultät der Uni haben sie eine Anlaufstelle für psychologische Hilfe eingerichtet. Studierende der Pädagogik und Psychologie kümmern sich um traumatisierte Flüchtlings-Mütter und ihre Kinder. Maria Pryshlak hat das Bild eines Kindes aus der Gruppe auf ihrem Schreibtisch stehen: Hinter einem Haus in blutendem Rot erstrahlt ein Himmel voll goldener Sterne.

Damit die Kleinen auf andere Gedanken kommen, hat Nadiia Khomanchuk mit Kommilitoninnen eine Kinderbibliothek für die Ankommenden gegründet. Und weil die so gut lief, sammelte sie gleich über die sozialen Medien auch noch Belletristik für die Eltern. 400 ukrainische Werke finden sich mittlerweile in der Ausleihe. "Es gibt eine riesige Nachfrage."

Zur SZ-Startseite

Ein Jahr Krieg in der Ukraine
:"Etliche Kinder wollen nicht hier sein"

Etwa 2000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine besuchen derzeit Münchner Schulen: Die Jüngeren erhalten normalen Grundschulunterricht, die Älteren lernen in 63 Brückenklassen Deutsch. Doch wie gut gelingt ihre Integration im bayerischen Bildungssystem?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: