Übertritt:Wenn der Abi-Zwang zur Qual wird

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Ranzen packen und dann los - nur wohin? In München schicken die meisten Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium. (Foto: dpa)

Viele Kinder gehen aufs Gymnasium, weil die Eltern das unbedingt so wollen. Doch was, wenn sich das als Fehler erweist? Eine Münchner Familie berichtet.

Von Melanie Staudinger, München

In der Familie von Carolin Rottländer ist Schule lange Zeit ein durchaus schmerzhaftes Thema gewesen, viel zu lange. In der dritten Klasse hat alles angefangen, berichtet sie. In der Schule ihres Sohnes, idyllisch im schönen Bogenhausen gelegen, sei es nur noch um den Übertritt gegangen, aufs Gymnasium versteht sich.

Realschule? Wirtschaftsschule? Mittelschule? "Waren kein Thema", sagt Rottländer. Auf Elternabenden stellten zwar Vertreter von verschiedenen Schularten ihre Einrichtungen vor, doch so richtig zugehört habe man doch nur beim Gymnasium. Und tatsächlich, der Sohn erreichte den erforderlichen Schnitt. Ein Leidensweg begann, der erst drei Jahre später enden sollte.

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Die Situation der Rottländers steht stellvertretend für die Lage von vielen Münchner Familien. An diesem Mittwoch ist der zentrale Anmeldetag an den weiterführenden Schulen in München - und wie jedes Jahr werden die Familien an die Gymnasien drängen. Das Bildungsreferat zählte im vergangenen Jahr knapp 5000 neue Fünftklässler in den 38 öffentlichen Gymnasien (Vorjahr: 4799). Für die fünften Klassen an den 23 Realschulen meldeten sich 2016 insgesamt 1882 Schüler an (Vorjahr: 1775). Wie sich die Zahlen in diesem Jahr entwickeln, da der fünfte Jahrgang am Gymnasium der erste G-9-Jahrgang sein wird, bleibt abzuwarten.

Doch seit Jahren wechselt mehr als die Hälfte aller Viertklässler in der Stadt München auf ein Gymnasium, in Starnberg oder dem Landkreis München ist der Anteil noch höher. All diese neun-, zehn- oder elfjährigen Kinder wechseln auf eine Schulart, die für vielleicht die 20 Prozent der Besten eines Jahrgangs konzipiert wurde.

Sie bereiten sich vier Jahre lang auf das Grundschulabitur vor. Sie pauken Rechenarten, lernen Diktate auswendig - und schaffen einen Notenschnitt von 2,33. Doch für viele beginnen die Probleme erst in der fünften Klasse: Plötzlich hilft das Auswendiglernen nicht mehr, die erste Fremdsprache will verstanden sein. Wer nicht am Ball bleibt, verliert den Anschluss.

"Unser Familienleben war drei Jahre lang extrem belastet", erzählt Carolin Rottländer. Sie sei sich vorgekommen wie eine Wächterin, die am Nachmittag überprüfte, dass der Sohn auch ja alles erledige. Skifahren am Wochenende fiel im Winter ebenso aus wie das Baden im Sommer. Die Hobbys litten, der Sohn war mehr und mehr frustriert. Schon in der fünften Klasse blieb er sitzen, in der sechsten Klasse kam Französisch dazu. "Es war viel zu viel Schule und viel zu wenig Freizeit. Und immer war es ein Kampf", sagt Rottländer.

Nach der sechsten Klasse dann zog die Familie die Notbremse: Der Sohn wechselte auf eine städtische Realschule mit Ganztagsbetrieb. Es war eine bewusste Entscheidung, ganz ohne Zwang, mit seinen Noten hätte er auch am Gymnasium bleiben können. Doch der Preis war den Rottländers zu hoch.

Sichere Zukunft? Sozialer Druck? Es gibt viele Erklärungsversuche

Es erfordert viel Mut, diesen Schritt zu gehen. Noch viel mehr Mut aber erfordert es, diesen Schritt auch öffentlich zuzugeben. So selten ist er nicht: Knapp 4,5 Prozent der Gymnasiasten wechseln auf eine Mittel-, Real- oder Wirtschaftsschule, die meisten davon auf eine Realschule. Und auch dort steigt die Zahl kontinuierlich an. Im Jahr 2008 nahmen die Realschulen laut Bildungsbericht der Stadt 538 Gymnasiasten auf, 2013 waren es 861. Das ist eine Steigerung um immerhin 60 Prozent. Zum Vergleich: 2008 schafften es 35 Realschüler auf ein Gymnasium, 2013 waren es 30. Wer die Schulart wechselt, für den geht es meist nach unten.

Warum so viele ans Gymnasium drängen, obwohl sie an einer anderen Schulart vielleicht viel besser aufgehoben wären, hat verschiedene Gründe. Eltern wollen eine sichere Zukunft für ihre Kinder, mit Abitur stehen einfach alle Wege offen, argumentieren die einen. Der soziale Druck zwinge städtische Familien schon fast zum Gymnasium, sagen die anderen. Der Ruf von Mittel- und Realschulen sei zu schlecht, hört man immer wieder. Die Eltern seien zu wenig über die Möglichkeiten im Bildungssystem informiert.

"Es gibt längst keinen Königsweg in der Bildung mehr", sagt Jürgen Böhm, Chef des Bayerischen Realschullehrerverbands. Die wirtschaftliche Stärke Bayerns beruhe nicht zuletzt auf dem starken Fundament an Fachkräften, deren Weg mit dem Übertritt an eine Realschule begonnen habe, wirbt er. Jugendliche müssten ihren eigenen Weg finden und dabei Erfolgserlebnisse haben - das aber könne nur gelingen, wenn bei der Schulwahlentscheidung die individuellen Bedürfnisse und Begabungen des Kindes im Vordergrund stehen. Und wenn Eltern bereit sind, Entscheidungen zu revidieren, so wie Carolin Rottländer es getan hat.

Auch sie kämpfte gegen Widerstand. Sie müsse ihrem Sohn mehr Zeit lassen, wurde ihr vorgeworfen. Der Junge aber wollte selbst wechseln, die Familie habe die Entscheidung gemeinsam getroffen. Jetzt auf der Realschule gehe es dem Jugendlichen blendend. Wenn er will, kann er nach der zehnten Klasse immer noch das Abitur etwa auf der Fachoberschule machen. "Es war eine Entscheidung für eine glücklichere Kindheit und für den Familienfrieden", sagt Rottländer.

© SZ vom 10.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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