Geld:Die Angst vor den Schulden

Schlecker

Nach ihrer Ausbildung arbeitete Andreja bei Schlecker.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Irgendwann konnte die junge Mutter Andreja keinen Brief mehr öffnen, weil ihre Schulden wuchsen. Jetzt beantragt sie Privatinsolvenz.

Von Valerie Präkelt

Im Münchner Bahnhofsviertel unweit der Theresienwiese wohnt Andreja (Name geändert). Seit 25 Jahren. Viel Platz hat sie nicht: Sie teilt sich die Wohnung mit ihrer Mutter, ihrem Freund und der gemeinsamen Tochter. "Früher war München hier ganz anders", sagt die 27-jährige. Sie spricht mit leiser Stimme und Münchner Dialekt. Andreja wird in diesen Tagen Privatinsolvenz anmelden.

Die junge Frau ist verschuldet, zahlungsunfähig und überfordert. Der einzige Ausweg ist das Verbraucherinsolvenzverfahren, in Deutschland umgangssprachlich als Privatinsolvenz bezeichnet. Fast 108 000 solcher Verfahren wurden im vergangenen Jahr in Deutschland beantragt.

Die Geschichte der jungen Mutter ist eine Geschichte über das Scheitern - und sie beginnt mit der Liebe. Mit 16 verliebt sich die gebürtige Bosnierin, die seit ihrem ersten Lebensjahr in Deutschland lebt, aber nie einen deutschen Pass beantragt hat, in einen Afghanen. "Ganz anderer Kulturkreis", sagt die Frau mit den langen, dunkelbraunen Haaren und lacht leise. Dann wendet sie den Blick ab. "Ich dachte, das ist er."

Andreja macht eine Ausbildung, fängt danach bei Schlecker zu arbeiten an. Sie liebt ihren Freund, liebt München, lebt ein ganz normales Leben. Die Eltern sind gegen die Beziehung, Andreja ist das egal. Sie verdient ihr eigenes Geld, und obwohl sie noch zu Hause wohnt, fühlt sie sich unabhängig. Dass Andrejas Freund sie um Geld bittet, findet sie nicht ungewöhnlich - so ist es eben in einer Beziehung. Erst geht es um kleine Beträge, ein paar Münzen, dann Scheine. Später 1000 Euro für den Urlaub seiner Eltern. Das Geld kann ihr Freund nicht zurückzahlen. "Da war ich wohl ziemlich naiv", sagt Andreja.

Die Rechnungen stapeln sich bei Andreja

Dabei läuft eigentlich alles gut. Andreja arbeitet gerne bei Schlecker. Ihre Mutter ist Krankenschwester, der Vater in Frührente, Andreja verdient ihr eigenes Geld. Dass sie davon immer mehr an ihren Freund abtritt und sich die Rechnungen stapeln, merken die Eltern nicht. Sie sind mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt: Der Vater ist unheilbar an Krebs erkrankt.

Andrejas hellblaue Augen füllen sich mit Tränen, wenn sie über ihn spricht. Sie erzählt, wie sehr sie ihren Vater geliebt hat und wie weh es tat, ihm nicht helfen zu können. Und von der Enttäuschung und der Frustration, als ihr Freund plötzlich verschwunden ist, "einfach so nach Afghanistan abgehauen", sagt sie. Die Beziehung ist beendet, Andreja bleibt auf den Schulden sitzen. Ob auch ihr eigenes Konsumverhalten zur Misere beigetragen hat? Sie ist sich nicht sicher.

Sie weiß auch nicht, um wie viel Geld es eigentlich geht. "Vielleicht 5000 Euro." Andreja öffnet zu diesem Zeitpunkt schon längst keine Briefe mehr. Heute weiß sie es besser, schüttelt den Kopf und lacht trotzig: "Selbst schuld, oder?" 2012 schließt die insolvente Drogeriekette ihre Filialen. Zwei Monate Gehalt bekommt Andreja nicht mehr ausgezahlt, "obwohl ich bis ganz zum Ende da war".

Ihr Vater ist mittlerweile zum Pflegefall geworden. Andreja kündigt den neuen Job in einem Supermarkt, um sich um ihn zu kümmern. Rechnungen und Mahnungen ignoriert sie. Andrejas Vater bekommt Chemotherapie, seine Ehefrau verausgabt sich finanziell, um zusätzliche Mittel für Pflege und medizinisches Zubehör zu kaufen. Im August 2013 stirbt der Vater, Andreja verfällt in eine Depression. An diese Zeit kann sie sich heute kaum erinnern. Ob sie es verdrängt? Sie weiß es nicht.

"Ich konnte einfach nicht mehr"

Fest steht: Auch Andrejas Mutter steckt nun in Schwierigkeiten. Sie hat für die Tochter gebürgt. Der Ausweg: Privatinsolvenz, die Andrejas Mutter 2014 anmeldet. Mit einem Bruttoverdienst von 1100 Euro kann sie sich das Leben in München kaum noch leisten. Warum die Mutter die Probleme ihrer Tochter nicht vorher erkennt hat, wird aus Andrejas Erzählungen nicht klar. Es fällt ihr schwer, die Zeit nach dem Tod ihres Vaters in Worte zu fassen. "Ich konnte einfach nicht mehr." Wie hoch ihre Schulden im Jahr 2014 sind, weiß sie nicht.

Ein Jahr später verliebt Andreja sich erneut. Ihr bulgarischer Freund sucht Arbeit und wartet auf einen Platz im Sprachkurs. Andreja geht zum ersten Mal zur städtischen Schuldnerberatung. Der Termin läuft gut, Andreja bekommt trotzdem Panik. Sie haut ab, raus aus München. Den Sommer verbringen sie und ihr Freund bei seiner Familie in der Schweiz. Zwei Monate ist sie weg. Dann kommt sie zurück nach München, schwanger. Gemeinsam ziehen sie bei Andrejas Mutter ein.

"Als meine Tochter geboren wurde, wusste ich, so geht es nicht weiter", sagt sie. Ihrem Freund gesteht sie erst jetzt, wie ernst es um ihre Überschuldung steht. Um wie viel Geld es geht, sagt sie ihm nicht, auch nicht, dass sie für die Schulden ihren Ex-Freund verantwortlich macht. Er akzeptiert das - fordert aber, dass sie die Lage in den Griff bekommt. Andreja gibt nach, geht erneut zur Schuldnerberatung.

Sie sucht den gleichen Berater auf, der ihr erst vor wenigen Monaten helfen wollte - und den sie hat sitzen lassen. "Mein Berater hat mir dann gesagt, dass er mir noch eine Chance gibt. Aber wenn ich die Termine versäume, dann bin ich auf mich allein gestellt." Andrejas Blick geht auf den Boden, dann in die Ferne. Sie zieht an ihrer Zigarette. "Ich bin wirklich sehr dankbar", sagt sie nach einigen Momenten der Stille.

Die Schuldnerberatung kümmert sich um Andreja und ihre Briefe

Dankbar dafür, dass die Münchner Schuldnerberatung sie jetzt unterstützt, den Weg durch die Privatinsolvenz mit ihr gemeinsam geht - und ihr die Last der Briefe und Mahnungen abgenommen hat. Zu Hause hat Andreja heute keine Briefe mehr. Sie hat alle ihrem Berater übergeben. Er prüft die Unterlagen, kümmert sich um eine entsprechende Bescheinigung für das Gericht, die den Weg ins Insolvenzverfahren eröffnet, erstellt einen Schuldenplan.

Er weiß, wie hoch die Schulden von Andreja sind, sie selbst nicht. Sie will es nicht wissen. Ihr ist noch nicht einmal klar, woher sie in den vergangenen drei Jahren überhaupt Geld zur Verfügung hatte. Die Wohnung im Bahnhofsviertel wird vom Amt gezahlt. Jetzt würde sie mit ihrer kleinen Familie gerne in eine eigene ziehen. Sie wartet auf eine Sozialwohnung.

Sobald das Insolvenzverfahren eröffnet ist, muss sich Andreja so schnell wie möglich einen Job suchen, obwohl ihre Tochter erst einige Monate alt ist. Das gehört zu den Auflagen, ein Schuldner ohne Arbeit muss jede zumutbare Beschäftigung annehmen. Die Privatinsolvenz bedeutet, dass sie den pfändbaren Teil ihres künftigen Einkommens an den Treuhänder abgeben muss - vermutlich für volle sechs Jahre. Wenn Andreja sich diszipliniert an alle Auflagen hält, wird sie danach für schuldenfrei erklärt. Andrejas Freund möchte langfristig zurück in sein Heimatland. Für sie wird das, zumindest die nächsten sechs Jahre, nicht möglich sein. Das Insolvenzverfahren bindet sie an München.

Andreja blickt trotzdem positiv in die Zukunft. Sie will ihrer Tochter etwas bieten. Man glaubt ihr, dass sie es wirklich schaffen will. Morgens könne Andreja wieder mit gutem Gefühl aufstehen, jetzt, da das Insolvenzverfahren ihr keine Angst mehr macht. "Ich bin einfach fürchterlich dankbar, das alles abgeben zu können, vor allem die Briefe", wiederholt die junge Frau noch einmal. Und gibt dann - fast ein bisschen stolz - zu, dass sie die Briefe endlich auch wieder selbst öffnen kann. Ohne Angstschweiß und Panikattacken.

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