Überlebende von Haiti:"Die Menschen lachten aus lauter Hysterie"

Unter den Trümmern des Hotels Montana in Haiti hat die Münchnerin Nora Junker überlebt: Die Zahnärztin über die Apokalypse nach dem Beben.

Anne Goebel

Das luxuriöse Quartier in der Karibik warb mit "Relaxing & Enjoying", mit "Resting & Dreaming". So steht es noch auf der Homepage des Hotel Montana in Port-au-Prince. Seit dem verheerenden Erdbeben vor neun Tagen liegt das mehrstöckige Gebäude in Schutt und Asche. Von den großzügigen Suiten, Marmorbädern und Pool ist nur ein Feld der Verwüstung geblieben.

Überlebende von Haiti: Nur noch Trümmer: Das zerstörte Hotel "Montana" in Port-au-Prince.

Nur noch Trümmer: Das zerstörte Hotel "Montana" in Port-au-Prince.

(Foto: Foto: AP)

In den Trümmern starb die 26-jährige Münchnerin Olivia-Elisa B. Und unter den Trümmern überlebte eine Frau aus München: Nora Junker war seit Heiligabend auf Haiti, um dort bei Freunden Weihnachten zu feiern. Als am 12. Januar um 16:53 Uhr die Erde bebte, war sie im Hotel Montana, Zimmernummer 351. Die SZ erreichte die 65-jährige Zahnärztin am gestrigen Mittwoch in der Dominikanischen Republik.

SZ: Frau Junker, wie geht es Ihnen?

Nora Junker: Danke. Danke, es geht mir gut. Ich habe ein paar gebrochene Rippen, aber das ist nichts. Ich lebe. Darüber bin ich glücklich.

SZ: Waren Sie als Touristin in Haiti? Wie haben Sie das Beben erlebt?

Junker: Nein, ich kam nicht als Touristin. Es war mein sechster oder siebter Besuch hier. Nadine Cardozo, eine der Besitzerinnen des Hotel Montana, ist meine beste Freundin. Ich bin Französin, und wir kennen uns seit 1972, als wir beide wegen der Olympischen Spiele nach München kamen als Mitglieder des französischen Teams. Sie ist meine schwarze Schwester, und ich bin ihre weiße Schwester, so war das für uns seither. Ich wollte Weihnachten mit ihr und ihrer Familie verbringen und eigentlich am 25. Januar zurückfliegen. So waren meine Pläne. Dann ist es passiert.

SZ: Was haben Sie im Moment des Bebens empfunden?

Junker: Es gab keine Vorwarnung, nichts. Ich war auf meinem Zimmer und hatte mich hingelegt, weil ich mich nicht wohlfühlte. Ich war gerade aufgestanden, um mich anzuziehen, und das war meine Rettung. Zwei riesige Betonplatten landeten auf meinen Bett. Und alles um mich herum flog. Links, rechts, über und unter mir segelten Wände durch die Luft.

Und ich sah mich absurderweise von außen, wie in einem Film. Ich sah mich zwischen all diesen Platten, irgendwann kam eine zum Stillstand, und mein rechtes Bein war eingeklemmt. Das war der Moment, in dem ich realisierte, was gerade passiert. Vorher habe ich nichts empfunden, keine Angst, keinen Schmerz. Aber da wusste ich: Du bist am Leben, aber wenn du das Bein nicht herausbekommst, wirst du es nicht mehr lange sein. Ich bin nicht besonders religiös, aber in diesem Moment habe ich um Kraft gebeten, mein Bein befreien zu können. Durch ein Loch in der Wand bin ich nach draußen gekrochen.

SZ: Wie erlebten Sie die Situation in Port-au-Prince nach den Erdstößen?

Junker: Danach kam die Apokalypse. Die Überlebenden, die Schreienden, die Leichen. Die Menschen, die lachten aus lauter Hysterie. Ich habe die Nacht im Haus meiner Freunde verbracht, in einem Innenhof. Man hörte ständig neue Schreckensgeschichten und Geschichten von Familien, die sich wiederfanden. Gruppen von Haitianern zogen die ganze Nacht durch die Straßen, sie sangen, lamentierten, baten Gott um Vergebung. Es war surreal.

SZ: Wann haben Sie Haiti verlassen können?

Junker: Am Tag nach dem Beben kam ich raus. Jeder hat versucht, das Land zu verlassen. Und jeder, der nicht helfen kann, ist dort auch überflüssig. Es fehlt an allem, an Wasser, Nahrung, Medikamenten. Deshalb ist es wichtig, dass nur die bleiben, die eine Unterstützung sind. Wie viele Menschen im Hotel ums Leben kamen, weiß ich nicht. Ich habe Leute gesehen, die mich aus den Trümmern um Hilfe baten und für die ich nichts tun konnte. Ich weiß von dem jungen Mädchen aus München, deren Vater inzwischen gekommen ist, um ihre Leiche nach Hause zu holen. Und ich höre von anderen, die aus Haiti hier nach Santo Domingo kommen, dass die Helfer bis zur Erschöpfung um jeden kämpfen.

SZ: Was ist mit Ihrer Freundin?

Junker: Sie lebt. Nach vier Tagen hat man sie aus den Trümmern gezogen.

SZ: Wie kommen Sie mit Ihren traumatischen Erlebnissen zurecht?

Junker: Es ist seltsam, aber es quält mich nicht. Vielleicht kommt der Schock erst später. In den nächsten Tagen fliege ich zurück nach München. Ich bin dankbar, dass ich lebe. Offenbar war meine Zeit noch nicht gekommen.

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