Im zugigen Zwischengeschoss der U-Bahn-Station Universität hängen die Porträts von Sebastian, Victoria, David und Rainer. Viele Menschen hasten vorbei, manche schauen nur kurz, einige bleiben stehen. Zwischen den Betonwänden und neben den Fahrkartenautomaten fällt das weiße, saubere Schaufenster auf. 24 Bilder intimer Momente hängen dort, einen Meter hinter der Glasscheibe. Herausgegriffen aus dem Alltag der vier. Überraschend, mitten im Alltag der Passanten.
Genau so war es geplant. Menschen wie Sebastian, Victoria, David und Rainer sehen viele Vorübergehende sonst nicht auf der Straße. Die vier haben eine komplexe, mehrfache Behinderung. Das heißt, ihre Einschränkungen sind sehr unterschiedlich und sie benötigen viel Unterstützung. Raus auf die Straße oder in dieses Zwischengeschoss des U-Bahnhofs würden sie gar nicht kommen. Es ist ein zu großer Aufwand. Das erfordert eine enorme Planung der Familie oder der Betreuer. Einen Aufzug ins Zwischengeschoss gibt es nicht.
Jetzt hängen hier ihre Bilder in der U-Bahn Galerie Maxvorstadt. Vier Tage war Fotograf Florian Jaenicke im Sommer des vergangenen Jahrs unterwegs. Er hat die vier Münchner besucht und sich mit ihnen angefreundet. „Wie immer muss sich erst ein gegenseitiges Vertrauen aufbauen. Nur so kann ich jemanden fotografieren, wie er wirklich ist und Emotionen einfangen“, beschreibt Jaenicke die Zeit mit den Porträtierten. Dieses Projekt ist für ihn etwas ganz Persönliches. Seit Jaenickes Sohn Friedrich vor 19 Jahren zur Welt kam und bei ihm eine komplexe Mehrfachbehinderung diagnostiziert wurde, hält Jaenicke Friedrichs Leben in Bildern fest. Er schreibt über sein Leben und seinen Sohn. Versucht damit, Menschen wie Friedrich mehr Sichtbarkeit zu geben.
„Je länger meine Frau und ich in diesem Leben stecken, desto mehr steigt da auch Wut auf. Das Gefühl nicht gesehen zu werden, wird immer größer, je älter unser Sohn wird“, erzählt Jaenicke. „Kinder haben noch so eine Unschuld. Dass diese Kinder dank der heutigen Medizin auch erwachsen werden und das Rentenalter erreichen können, wird nicht mitgedacht.“ Erwachsene Menschen mit Behinderung fallen irgendwann aus dem System – werden weniger gefördert, haben kein Recht mehr auf Bildung. Mit solchen Problemen wird man kaum konfrontiert, wenn man selbst nicht betroffen ist.
Aber der damals zweijährige Sebastian, die 20-jährige Victoria, der 23-jährige David und der 56-jährige Rainer sind auch Teil der Gesellschaft, Teil von München. Jetzt werden sie gesehen. Täglich von Hunderten. Wie David im Planschbecken lacht, wie Victoria im Rollstuhl geschoben wird, wie Sebastians Mutter ihren kleinen Sohn im Arm hält. Bilder der Ausgelassenheit, Bilder, die Zerbrechlichkeit erahnen lassen.
Sebastian und Victoria sind vor der Eröffnung der Ausstellung verstorben
Beate Bettenhausen hat mit ihrem Team die 24 Bilder aus Hunderten ausgewählt. Als Vorstand der Münchner Stiftung „Leben pur“ hat sie das Projekt initiiert. Angefangen mit einem Aufruf nach Fotomodellen, wie Bettenhausen die Porträtierten nennt. „Die Familien der Porträtierten freuen sich, dass ihre Kinder als fotografierenswerte, schöne Menschen wahrgenommen werden.“
Für zwei der Familien bedeuten die Bilder noch einmal mehr. Sebastian und Victoria sind vor der Eröffnung der Ausstellung verstorben. Ihre Angehörigen wollen trotzdem, dass sie dort zu sehen sind. Dass sie so, wie sie waren, festgehalten werden.
Jaenicke steht vor der Glasscheibe, hinter der die Bilder hängen. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Menschen stellen sich dazu, lesen den Beschreibungstext. Jaenicke lächelt. „Jetzt, wo wir hier so stehen, finde ich es toll, dass die Leute die Bilder wahrnehmen und sich ansehen. Ich konnte vorher nicht einschätzen, ob die Menschen sich für so etwas Zeit nehmen.“
Rund um die Uhr rattern die Rolltreppen. Piepsend schließen sich die Türen der U-Bahn. Ohne Öffnungszeiten und ohne Ticket können Passanten diese besondere Ausstellung bis Ende des Monats besuchen. Ganz bewusst oder auch nur mit einem kurzen Blick auf dem Weg zur Arbeit.