U-Bahn-Schläger:"Jugendgewalt ist kein ethnisches Problem"

Ein Jahr nach dem Überfall der U-Bahn-Schläger: Sozialwissenschaftler Bernd Holthusen über den Tatort U-Bahn, Jugendgewalt und Mittel zur Abschreckung.

Christian Rost

Zuletzt wurden zwei Brüder am Ostbahnhof von Jugendlichen attackiert und schwer verletzt. Fünf derartige Übergriffe in der U-Bahn haben sich seit der aufsehenerregenden Tat im Dezember 2007 ereignet, als - die im Juli 2008 dann zu hohen Haftstrafen verurteilten - Serkan A. und Spyridon L. einen pensionierten Rektor fast totgeprügelt hatten. Die SZ sprach mit dem Sozialwissenschaftler Bernd Holthusen vom Deutschen Jugendinstitut in München über den Tatort U-Bahn, Jugendgewalt und Mittel zur Abschreckung.

U-Bahn-Schläger: Scharf genug, um als Wahlplakat zu dienen: Die Video-Aufzeichnung des Angriffs auf einen pensionierten Schuldirektor vor einem Jahr.

Scharf genug, um als Wahlplakat zu dienen: Die Video-Aufzeichnung des Angriffs auf einen pensionierten Schuldirektor vor einem Jahr.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Seit dem Fall der beiden "U-Bahn-Schläger" vom Arabellapark sind in München fünf ähnliche brutale Übergriffe bekannt geworden. Gibt es tatsächlich mehr Gewaltdelikte oder werden solche Fälle nur mehr beachtet?

Bernd Holthusen: In den Statistiken der Polizei, auch in München, ist kein dramatischer Anstieg von Gewalttaten zu erkennen. Wenn nun öfter von Gewalt in der U-Bahn die Rede ist, liegt das sicherlich auch an der gesteigerten Aufmerksamkeit, die solche außergewöhnlichen Vorfälle wie die Tat vor einem Jahr hervorrufen. Daneben ist festzuhalten, dass es in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren einen Trend gibt, bei Gewalttaten sensibler zu reagieren.

SZ: War diese Sensibilität früher wirklich geringer?

Holthusen: Vor nicht allzu langer Zeit hat es kaum öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, wenn sich Jugendliche aus rivalisierenden Dörfern regelmäßig geprügelt haben. Mittlerweile sieht man das anders. Diese Sensibilisierung dokumentiert sich auch in dem erst im Jahr 2000 gesetzlich verankerten Recht auf gewaltfreie Erziehung oder in dem Gewaltschutzgesetz im Bereich der häuslichen Gewalt. Wir kennen nun Begriffe wie Mobbing, Stalking oder Bullying. Diese Bezeichnungen waren vor zehn Jahren nahezu unbekannt, und erst in der jüngeren Zeit werden auch psychische Formen von Gewalt mehr analysiert und Strategien dagegen entwickelt.

"Jugendgewalt ist kein ethnisches Problem"

SZ: Auffällig ist, dass zuletzt Jugendliche häufiger als Täter ermittelt wurden.

U-Bahn-Schläger: Forscher Bernd Holthusen

Forscher Bernd Holthusen

(Foto: Foto: oh)

Holthusen: Das ist auch ein Problem der Statistik. Die polizeiliche Kriminalstatistik ist eine Hellfeldstatistik, die zeigt, welche Personen der Polizei als Tatverdächtige bekanntgeworden sind. Aus empirischen Studien wissen wir, dass ein erheblicher Anteil der Gewalttaten der Polizei nicht bekannt wird, das ist das sogenannte Dunkelfeld. Wenn nun die Kooperation zwischen Schulen und der Polizei ausgebaut wird und Schulrektoren dazu angehalten werden, jede gewalttätige Auseinandersetzung der Polizei zu melden, dann führt das zu einem Anstieg in der Statistik. Das heißt aber nicht, dass sich tatsächlich mehr Gewalttaten ereignet haben, sondern nur, dass eine Verschiebung vom Dunkelfeld ins Hellfeld stattgefunden hat. Man muss außerdem sehen, dass viele Jugendliche, die als Täter auffällig werden, meist immer auch zuvor Opfererfahrungen machen mussten. Und Täter und Opfer gehören in der Regel derselben Alters- und Geschlechtergruppe an.

SZ: Können härtere Strafen Jugendliche von Gewalttaten abhalten?

Holthusen: Die Abschreckung mit dem Gesetzbuch funktioniert allenfalls sehr eingeschränkt. Die Übergriffe entstehen meist ungeplant aus einer eskalierenden Situation heraus, in der der Jugendliche nicht daran denkt: 'Oh, das könnte mir jetzt Jugendarrest oder Sozialstunden einbringen.' Sie gehen ja davon aus, dass man sie eben nicht erwischt. Oft spielen Alkohol oder Drogen eine Rolle, was die Möglichkeit der Reflexion zusätzlich einschränkt und die Hemmschwellen herabsetzt. Von einer Erhöhung des Strafrahmens ist auch deshalb kaum eine Wirkung zu erwarten, weil die Jugendlichen zwar eine Vorstellung davon haben, was verboten ist, ihnen aber die juristischen Details wie Straftatbestände und Strafhöhen schlicht unbekannt sind.

SZ: Sind Überwachungskameras in den U-Bahnhöfen ein probates Mittel zur Abschreckung?

Holthusen: Was am ehesten hilft, ist tatsächlich die Erhöhung des Entdeckungsrisikos. Insofern können Videokameras ein sinnvolles Mittel zur Abschreckung sein. Dies setzt jedoch voraus, dass sich die Jugendlichen Gedanken darüber machen, und das ist in eskalierenden Situationen oft eben nicht der Fall. Kameras können auch zur Verstärkung des subjektiven Sicherheitsgefühls beitragen. Gleichzeitig kann es aber auch Verschiebeeffekte in nicht überwachte Räume geben.

"Jugendgewalt ist kein ethnisches Problem"

SZ: Sind vor allem junge Ausländer gewalttätig, wie viele behaupten?

Holthusen: So pauschal ist diese Aussage nicht richtig. Es gibt ja nicht ,die jungen Ausländer‘, sondern vielmehr unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen mit sehr verschiedenen Migrationshintergründen. Hier gilt es, sehr genau zu differenzieren. Sowohl in den Hellfeldstatistiken als auch in verschiedenen empirischen Dunkelfeldstudien zeigen sich stärkere Gewaltbelastungen in bestimmten Gruppen. Zunächst muss konstatiert werden, dass Jungen häufiger mit Gewalt auffallen als Mädchen. Auch zeigen sich Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund in einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen wesentlich stärker belastet als Jugendliche ohne Migrationshintergrund.

Diese Jugendlichen haben auch häufiger selbst Gewalt in der Familie erfahren oder beobachten müssen, und sie stimmen gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen eher zu. Gleichzeitig zeigen die Studien aber auch, dass diese Jugendlichen häufiger an Hauptschulen sind und aus sozial belasteten Familien stammen. Werden diese Faktoren berücksichtigt, also Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund aus ähnlichen sozialen Verhältnissen, relativieren sich die Unterschiede. Verkürzt könnte man sagen: Gewalt ist kein ethnisches Problem, sondern eines der sozialen Lage.

SZ: Gibt es wirksame Mittel zur Gewaltprävention bei Jugendlichen?

Holthusen: Bewährte Angebote sind soziale Trainingskurse, in denen mit straffälligen Jugendlichen pädagogisch gearbeitet wird und dabei auch kritische Themen angesprochen werden wie die Frage der ,Ehre‘ oder die männliche Geschlechterrolle. Wichtig ist aber vor allem, die Ressourcen der Jugendlichen zu nutzen, die Zweisprachigkeit bei Migranten zum Beispiel. Das Ziel ist die sozial verträgliche Integration der Jugendlichen in die Gesellschaft.

SZ: Muss an den Schulen mehr gegen Gewalt getan werden?

Holthusen: Vor allem die Hauptschulen sind stark mit Gewalt belastet, wobei es erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern und zwischen Stadt und Land gibt. Die Schulen sind sehr unterschiedlich, und an den guten passiert schon viel, um Jugendlichen zu zeigen, wie Konflikte konstruktiv gelöst werden können. Die Hauptschulen abzuschaffen, indem man sie umbenennt, das wird die Probleme nicht lösen. Was die Jugendlichen brauchen, ist die Förderung ihrer Kompetenzen und Potentiale.

Eine eigene Diskussion wert wäre auch, sich mit dem geringeren Bildungserfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund auseinanderzusetzen. Für manchen Jugendlichen ist eine wiederholte abwertende Äußerung eines Lehrers, etwa wegen mangelnder Deutschkenntnisse, eine folgenschwerere Verletzung als mancher Faustschlag, gegen den er sich mit seinen Mitteln wehren kann.

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