Typografie:Die Buchstaben der Frauen

Typografie: Benannt nach der Großmutter: Christine Hager hat eigens für ein Buch über ihre Großmutter die Schriftfamilie "Lotti" kreiert.

Benannt nach der Großmutter: Christine Hager hat eigens für ein Buch über ihre Großmutter die Schriftfamilie "Lotti" kreiert.

(Foto: August Dreesbach Verlag München, 2021)

Bayerns beste Independent-Bücher 2021: Barbara Lüth stellt stilprägende und doch unbekannte Schriftgestalterinnen vor.

Von Jutta Czeguhn, München

"Bodenständig, verspielt, detailverliebt". So beschreibt Christine Hager "Lotti" und meint wohl beide: ihre verstorbene Großmutter, auf deren Spuren sie sich mit dem Buch "Liebe Lotti" begibt, und Lotti, eine neue Schriftfamilie, die sie 2014 speziell für dieses Projekt - ihre Abschlussarbeit im Grafikdesign-Studium - entwickelt hat. Moderne, robuste Buchstaben, die doch einen feinen kalligrafischen Charakter haben. Die österreichische Gestalterin, Jahrgang 1986, will mit ihrer Schrift Sprache hörbar machen: "In manchen Fällen ist das ein lautes Schreien, manchmal ist es ein leises Flüstern, und in anderen Fällen ist das angenehm gleichmäßiges Sprechen."

Hagers erstaunlich sinnlichem Konzept von Typografie begegnet man in Barbara Lüths Porträt-Sammlung "Unsichtbar. Frauen gestalten Schrift", die im vergangenen Jahr im Münchner August Dreesbach Verlag erschienen ist und sehr zu Recht einen Platz unter Bayerns besten Independent-Büchern 2021 des Freistaats gefunden hat. Allen, bei denen sich der Kontakt zu Typografie bislang auf die vorinstallierten, handelsüblichen Bildschirmschriften ihres Computer-Betriebssystems beschränkt hat und die sich auch sonst kaum keinen Kopf machen, was die komplexe Anatomie einer Schrift angeht, öffnet dieses Buch eine Tür.

Die Daseinsform von i-Punkten

Eine Tür in eine fremde Welt zunächst, in der sich Menschen um die Daseinsform von i-Punkten Gedanken machen. Dort wimmelt es von geheimnisvollen Vokabeln wie "roman", "italic", "ultra thin" oder "condensed heavy", dort tummeln sich "Serifen" und "Versalien", "Ligaturen" und "Kapitälchen". Das Buch setzt einiges voraus, weshalb ein Glossar zu den Basics der Typografie sicher hilfreich gewesen wäre. Abschrecken lassen sollte man sich dennoch nicht, vielmehr lustvoll blättern. Schließlich hat jede zweite Seite in diesem von Lüth selbst elegant designten Buch großen Schauwert. Auf mauve-braunem, blauen oder weißem Papier marschieren Buchstaben-Kohorten auf, stehen Spalier oder tanzen in munteren Formationen übers Blatt. Keine einzige dieser Schriftsippen gleicht der anderen. Es macht ungeheuren Spaß, sie zu vergleichen, ihre Eigenheiten, ihre Grazie, ihre Strenge, mitunter auch theatralischen Macken zu studieren. Und so ein Gefühl zu gewinnen für all die Buchstaben, die uns täglich begegnen.

Typografie: "Lebensveränderde Erfahrung": Barbara Lüth, Autorin von "Unsichtbar. Frauen gestalten Schrift", hat 2018 in München einen Intensiv-Kurs beim Typografie-Experten Rudolf Paulus Gorbach besucht.

"Lebensveränderde Erfahrung": Barbara Lüth, Autorin von "Unsichtbar. Frauen gestalten Schrift", hat 2018 in München einen Intensiv-Kurs beim Typografie-Experten Rudolf Paulus Gorbach besucht.

(Foto: Barbara Schmid Photography)

Barbara Lüth, gebürtige Innsbruckerin, hat die Faszination für Schriftgestaltung 2018 gepackt, als sie in München einen Intensiv-Kurs beim Typografie-Experten Rudolf Paulus Gorbach und seiner Tochter Dagmar besuchte. Eine "lebensverändernde Erfahrung", wie die gelernte Goldschmiedin schreibt. Für Lüth stellten sich plötzlich viele Fragen, weit über die Lesbarkeit einer Schrift, über ihre bloße Transportfunktion von Informationen hinaus: Schrift zwischen Tradition und technologischem Wandel, Schrift als Machtinstrument (etwa die martialischen Fraktur), als Ausdruck von Anarchie, Pop oder als Kunstform. Und beim intensiven Studium all der legendären Schriftgestalter fiel ihr vor allem eine große Leerstelle auf: Wo sind die Frauen?

Denn natürlich gibt es sie, auch wenn das Typendesign - wohl bis heute - eine Männerdomäne ist. Wie immer ist es eine Frage der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung, und um genau die geht es Barbara Lüth. Sie stellt zwanzig schriftgestaltende Frauen vor und umgreift dabei ein ganzes Jahrhundert. Eine Pionierin ist Gudrun Zapf-von Hesse (1918-2019), die als Buchbinderin begann und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg an der Frankfurter Städelschule Schrift lehrte. Hesse, eine große Kalligrafin, ist die Erfinderin der berühmten "Diotima" (1948). Ihr erster eigener Schrift-Entwurf, die einst von ihr von Hand in Messing geschnittene "Hesse Antiqua", wurde 2018 aus Anlass ihres 100. Geburtstags erstmals digital veröffentlicht.

Schriften für die großen IT-Player

Typografie: Gut lesbar auf den niedrigauflösende Bildschirmen der Achtzigerjahre: Die Schrift "Arial", 1982 von Patricia Saunders und Robin Nicholas gestaltet, gehört heute noch zu den Designschriften von Microsoft.

Gut lesbar auf den niedrigauflösende Bildschirmen der Achtzigerjahre: Die Schrift "Arial", 1982 von Patricia Saunders und Robin Nicholas gestaltet, gehört heute noch zu den Designschriften von Microsoft.

(Foto: August Dreesbach Verlag, München 2021)

Zu den diskreten, dabei doch sehr gegenwärtigen Schriftenerfinderinnen gehört auch die Südafrikanerin Margret Calvet (Jahrgang 1936). Zusammen mit Jack Kinneir hat sie "Transport" erdacht, eine Schrift, die bis heute, in digitaler Adaption, nahezu ikonisch ist für das Britische Transportsystem. Und dann ist Patricia Saunders (1933-2019). Wer einen Text in Word tippt und sich bei den Designschriftarten umschaut, kommt an der Engländerin gar nicht vorbei. Gemeinsam mit Robin Nicholas hat sie 1982 die "Arial" kreiert, zunächst für IBM, dann später von Microsoft adoptiert. Für den Konkurrenten Apple unterwegs war Susan Kare, von ihr stammen die ersten Icons für den Mac und die Systemschrift "Chicago" für den iPod der ersten Generation.

Neben diesen stilprägenden "großen Unbekannten" gibt Barbara Lüth aber auch heutigen Talenten der Typografinnen-Szene viel Raum. Veronika Burian etwa, deren elegant klare Schrift "Karmina Sans" Lüth für ihr Buch gewählt hat. Oder Verena Gerlach, die in ihrem Berliner Studio "fraugerlach" als Buchgestalterin für namhafte Kunstbuchverlage tätig ist. Natalie Rauch wiederum hat sich auf nicht-lateinische Schriften wie Hebräisch, Khmer oder Birmanisch spezialisiert. Sie sei fasziniert von der "Vielfalt der Buchstabenformen und deren Geschichte weltweit", erklärt Rauch im Schlussteil des Buches, in dem einige Gestalterinnen von Lüth zum Kurz-Interview gebeten werden. Unter anderem sollen sie ihren Lieblingsbuchstaben beschreiben. Bei Natalie Rauch ist es der hebräische Buchstabe Mem - מ. Als wär's ein alter Bekannter, macht sie ihm ein liebevolles Kompliment: Er sei "zugänglich, praktisch und freundlich".

"Unsichtbar - Frauen gestalten Schrift", Barbara Lüth, August Dreesbach Verlag, München, 24 Euro.

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