Typisch Deutsch:Wie an einem See, in dem alle schwimmen dürfen, außer man selbst

Wahllokal in Bayern

Ein bayericher Trachtenhut in Unterwössen in einem Wahllokal auf einer Wahlkabine. Unser Autor sehnt den Tag herbei, an dem er zum ersten Mal eine betritt.

(Foto: dpa)

Unser Autor kennt aus seiner Heimat keine Kommunalwahlen. Dort wurde das Bürgermeisteramt vom Präsidenten vergeben. Jetzt lernt er Demokratie kennen - darf aber nicht mit abstimmen.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Als ich die ersten Plakate hängen sah, war ich irritiert. Was ist das nur für eine Wahl? Fotos von Personen, die für sich werben, um Bürgermeister zu sein? Zeitverschwendung, wo doch der oberste Mann im Land diese Posten vergeben könnte. Solche Streiche spielt einem der Verstand bisweilen, wenn man vergisst, dass Bayern nicht irgendein Staat ist.

Um solche synaptischen Verfehlungen zu verstehen, muss man wissen, dass in meiner einstigen Heimat Syrien sämtliche Ämter im Staat bis runter auf kleinste Ebene vom Präsidenten vergeben werden, auch alle Bürgermeister und die Verwaltung. Umso interessanter war es, als ich im Alter von 14 Jahren ein amerikanisches Kinderprogramm auf Arabisch übersetzt im Fernsehen zu sehen bekam. Es ging um eine Katze, die zum Bürgermeister gewählt wurde. Enorm, dachte ich - und erzählte meinem Lehrer davon, indem ich vorschlug, auch in Raqqa eine Wahl einzuführen. Der Lehrer legte seine Hand auf meinen Mund und fragte, ob ich in das Haus meiner Tante gehen möge. Das bedeutet: ins Gefängnis.

Wer in Syrien ein politisches Amt haben möchte, hängt von seiner Treue und Nähe zum Präsidenten ab. In meinem Dorf Kirchseeon habe ich hingegen mitbekommen, dass es bei Kommunalwahlen vor allem um die Nähe zum Volk geht.

Typisch deutsch

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Gemeinderatswahlen, Kreistagswahlen, Landratswahlen, Bürgermeisterwahlen - enorm, was allein in München und im Großraum demnächst ansteht. Anfangs waren all diese politischen Ebenen wie eine komplizierte physikalische Gleichung für mich. Bei der Lösung bin ich in den Wochen des Wahlkampfes weiter vorgedrungen. Ich habe mit Menschen gesprochen, die unter roten Schirmen Popcorn verteilten, und die Tüte mit einem Parteiflyer garnierten. Ich sah Kirchseeons Bürgermeister-Kandidaten auf einer Bühne diskutieren. Der Saal war voll, und die Kandidaten kannte ich vom Sehen. Für mich ein großes Erlebnis.

Zum Verständnis: In Syrien wählt der Staatspräsident die Bürgermeister für jeden Ort selbst aus und platziert in aller Regel einen Vertrauten, der ganz wo anders herkommt, auf dem Stuhl. Also jemanden, der die Stadt weder kennt noch einen besonderen Bezug dazu hat. Hier in Bayern sind die Kandidaten keine Söhne oder Töchter der Kanzlerin, sondern der Region.

Ich ging zu der Podiumsdebatte, um besser zu begreifen, was um mich herum geschieht. Mitten drin bin ich noch nicht. Ich darf nicht wählen, weil ich keinen deutschen Pass habe. Noch nicht, weswegen es sich anfühlt, als stünde man am Seeufer und sähe zu, wie alle anderen schwimmen, man selbst darf aber nicht ins Wasser. Ich sehne mich nach diesem Moment, wenn ich zum ersten Mal eine Wahlkabine betrete und ein Kreuz hinter einen Namen schreibe, dessen Träger ich persönlich kenne. Kaum zu glauben, dass gerade bei der Kommunalwahl so viele auf ihr Stimmrecht verzichten. Vielleicht fehlt es an Motivation, wenn man nie im Schatten der Diktatur gelebt hat.

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