Typisch deutsch:Wer strampelt denn da?

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Blau oder rosa? Es gibt bei Bedarf auch noch Babykleidung in anderen Farben (Symbolfoto). (Foto: Imago Stock&people/Westend61)

Einst wäre es unserem Autor sehr wichtig gewesen, dass seine Frau einen Sohn zur Welt bringt. Nun ist sie schwanger - und erwartet ein Mädchen.

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Dem Umzug von der Asylunterkunft in eine echte Wohnung folgte, dass ich meine Nachbarn immer besser kennenlernte. Eine meiner Nachbarinnen hatte zwei Töchter - und war nun zum dritten Mal schwanger. Ich habe für einen Jungen gebetet, damit die Familie nicht in Trauer leben muss.

Lieber einen Sohn oder eine Tochter? Was für eine Frage. Der Mann trägt den Namen der Familie, steigert ihren Stolz und Einfluss, außerdem stellt er die Produktivkraft der Familie dar. In Syrien heißt es zudem, dass der männliche Sohn, als Herr seines Hauses, der einzige sein wird, der sich später um die Eltern kümmert. In Syrien wird die Geburt eines Jungen mit Freudenschreien und Feuerwerk begrüßt. Wenn ein Mädchen geboren wird, sagen die Nachbarn nichts.

Unsere Nachbarin hat leider ein Mädchen zur Welt gebracht, vor dem Haus und am Straßenrand standen leere Dosen: Was bringt jemanden dazu, Dosen an den Straßenrand zu stellen? Ist das ein Ausdruck von Enttäuschung?

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Als ich meinen Nachbarn traf, versuchte ich, möglichst sensibel zu sein: Du und deine Frau seid noch jung, tröstete ich. Ihr könnt immer noch einen Sohn bekommen. Statt den Trost anzunehmen, wurde der Mann wütend. Jetzt reiche es, teilte er mir mit. Sie seien mit ihren drei Mäusen sehr zufrieden. Ich solle das Getue sein lassen.

Wahrscheinlich tun sie nur so, dachte ich. Man kann sich ja alles und jeden schön reden. Wenn eine Frau in Syrien drei oder mehr Mädchen zur Welt bringt, muss sie solange weiter gebären, bis sie einen Jungen zur Welt bringt. Oder der Mann heiratet zu diesem Zweck eine zweite Frau. Meine Tante hatte bereits zehn Töchter geboren, ehe sie einen Jungen bekam. So ist das üblich.

Es trägt sich nun zu, dass meine Frau und ich ein Kind erwarten. Sie ist im neunten Monat, es kann sich nur noch um Tage handeln. Es sind die wahrscheinlich aufregendsten Tage unseres Lebens. Würden wir uns gerade in unserer früheren Heimat aufhalten, wäre die Aufregung vor allem von Anspannung geprägt. Von Druck: lass es einen Sohn werden.

Ich kann verraten: Es wird sehr wahrscheinlich kein Sohn. Der Fötus sieht ziemlich deutlich nach einem Mädchen aus. Ob wir enttäuscht waren? Als wir es beim Arzt erfuhren, schauten wir uns an. Dann lachten wir, weil wir wussten: Es ist egal. Es ist einfach egal. Es hat alles seine Vor- und Nachteile. Mädchen sind toll, Jungs auch. Mädchen sind anstrengend, Jungs auch. Mädchen können süße Zöpfe tragen. Jungen bei Bedarf auch.

Am schönsten sind die Momente, wenn meine Frau mir erzählt, dass sich unsere Tochter im Bauch bewegt. Ich spekuliere wild vor mich hin. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass sie mal eine versierte Sportlerin wird. Vielleicht Fußballerin, Läuferin oder Schwimmerin? Eines ist klar: Das Abstellen von Dosen vor dem Haus ist kein Ausdruck der Enttäuschung, sondern ein Willkommensgruß.

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