Süddeutsche Zeitung

Typisch deutsch:Die Münchner können nicht einmal die zarteste Fischgräte zerbeißen

In Nigeria war unser Autor gewohnt, Tierknochen zu zermalmen. In München muss er nun zum ersten Mal im Leben zu einem Zahnarzt. Der Einfluss dieser Stadt?

Kolumne von Olaleye Akintola

Tausende Hühner, Kühe und Schweine werden - jenseits der Corona-Pandemie - jedes Jahr auf dem Oktoberfest geopfert, damit sie von Zähnen zerkaut werden. Das Schlimmste daran ist, dass die Knochen von den Gebissen der Festgäste ignoriert und auf den Tellern wie zu Unrecht verurteilte Verbrecher hinterlassen werden.

Keine freiwilligen Zähne, um sie zu zerbeißen, fieseln oder zu knacken. Keine heldenhaften Zähne, um die hohlen, röhrenförmigen Knochen aufzubrechen, damit das Öl und das Mark auf die Zunge gelangen. Es sieht immer aus wie Äpfel, die auf halbem Weg weggeworfen werden, nachdem ihr Saft extrahiert wurde. Alles eine kolossale Verschwendung.

In einem Fleischfresserland wie Bayern, mit Wurstwaren, die nicht von dieser Welt sind, und einer Geflügelindustrie, die Hühner im Sekundentakt produziert, könnte man zu dem Schluss kommen, dass das bayerische Volk mit einem großartigen Gebiss ausgestattet ist. Das ist weit von der Wahrheit entfernt.

Irgendetwas muss mit einem Gebiss nicht stimmen, wenn es so nahrhafte, kalziumhaltige Feinheiten wie zarte, süße Knochen ignoriert. Ich kenne Zähne, die Kuhfüße oder -schwänze zerkleinern und sogar die Korken von Bierflaschen mit Leichtigkeit entfernen können. Die Münchner Gebisse, die ich hier um mich herum sehe, können hingegen nicht einmal die zarteste Fischgräte zerdrücken.

Ich habe auch ein winziges Gebiss samt Zahnlücke, aber ich kann damit problemlos auf Metall beißen. Manchmal benutze ich meine Zähne anstelle einer Schere oder eines Messers. Das Beste ist, dass ich damit Hühnerknochen zu Pulver zerkleinern und Rinderknochen zertrümmern kann. Ich brauchte in meinem ganzen Leben noch nie einen Zahnarzt. Es ist also nicht die Größe oder das Aussehen des Gebisses, das seine Qualität bestimmt. Sondern wie man es trainiert.

In München fällt mir auf, dass die Stadtbewohner gerne Süßwaren knabbern. Kekse, Pralinen, Kuchen und bald auch wieder Eis. In Nigeria meiden wir zuckerhaltige Nahrung - und falls wir doch Zucker gegessen haben, werden wir ihn mit pflanzlichen Lösungen wieder los. Doch in Deutschland gibt es kaum ein Entrinnen vom Zucker. Nahezu jedes Lebensmittel hat ihn in sich, vom Brot bis hin zum Reis - was auf Dauer die Leistungsfähigkeit der Zähne beeinflussen muss.

Der Gang zum Zahnarzt ist in Bayern alltägliche Gewohnheit. Und fast schon wie als logische Konsequenz sehe ich mich so langsam selbst in dieser Liga mitspielen. Vielleicht ist es die Auswirkung des Wetters. Ich vermute aber eher, dass es das bayerische Essen ist. Meine Zähne fühlen sich nicht mehr so kräftig an, wenn ich bestimmte warme Mahlzeiten vertilge.

Man muss kein King Kong sein, um zu wissen, ob das eigene Gebiss in Ordnung ist. Ich habe mir deshalb vorgenommen, dass ich wieder öfter in Maiskolben beiße, Hendlknochen zermalme und Innereien von Kühen kaue. Vorher aber gehe ich zum ersten Mal in meinem Leben zum Zahnarzt.

Übersetzung aus dem Englischen: Korbinian Eisenberger

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SZ vom 12.03.2021/koei
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