Typisch deutsch:Der Blick hinter die Schale

Typisch deutsch: Goldener Oktober in München: Eine Frau mit Hund und Tochter in der Nachmittagssonne inmitten von Herbstlaub auf einer Liegewiese im Königlichen Hirschgarten.

Goldener Oktober in München: Eine Frau mit Hund und Tochter in der Nachmittagssonne inmitten von Herbstlaub auf einer Liegewiese im Königlichen Hirschgarten.

(Foto: Ralph Peters/imago)

Goldene Oktobertage sind in Syrien nicht existent, dort findet ein krasser Bruch zwischen Sommer und Winter statt. Und nirgendwo hüpfen Oachkatzl durchs Laub. Eine Hommage an den bayerischen Herbst.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

In der Oktobersonne stapfe ich im bunten Laub. Durchs Fenster sehe ich meiner Nachbarin beim Marmelade einmachen zu. Kinder pflücken Äpfel vom Baum, da zischt ein Eichhörnchen an ihnen vorbei und erklimmt den Baumstamm.

Herbst, ein Monat, der in Syrien praktisch nicht existent ist, dort erwartet einen stets ein krasser Bruch zwischen Sommer und Winter. Im Nachhinein komme ich mir vor wie ein Bär, der die Herbstblätter nicht fallen sah, weil der Winterschlaf zu abrupt eingetreten war. Eichhörnchen und Kastanien kannte ich nur aus Kindersendungen im Fernsehen.

Die Flucht nach Deutschland führte mich und meine Begleiter über Serbien bis nach Ungarn. Drei Tage und Nächte verbrachten wir im Wald und auf den Feldern. Auf der Suche nach Essbarem entdeckten wir ein Kürbisfeld. Mit den Händen gruben wir ein Loch in die orangefarbene Frucht und entfernten die Kerne. Wir fühlten uns wie Füchse, die versuchen, eine Wassermelone zu verspeisen. Und wir vertilgten Kastanien, die von den Bäumen gefallen waren. Sah mich da ein Eichhörnchen wütend an? Taten wir uns an seiner Mahlzeit gütlich?

Ich habe Glück, dass meine Flucht seinerzeit erfolgreich endete - und dass ich inzwischen seit vielen Jahren direkt am Waldrand des Ebersberger Forsts in Kirchseeon wohne. Neulich stand dort der zwölfjährige Luis samt einer Schachtel mit Nüssen, Sonnenblumenkernen und Früchten. Luis murmelt etwas von Oachkatzln. Zu deutsch: Eichhörnchen.

Natürlich blieb es auch mir einst nicht erspart. Wie praktisch jeder Neuankömmling sollte ich erstmal das Wort "Oachkatzlschwoaf" aussprechen. So eine Art Feuertaufe der Oberbayern. Ich habe ihnen die Freude gemacht. Gut daran: Man muss es nur versuchen, nicht schaffen, das mit der Aussprache. Idealerweise scheitert man kläglich, und bereitet den Eingeborenen damit umso mehr Glückseligkeit.

Viele Proben und Hürden des Lebens später stand ich nun neben Luis und beobachtete, wie fünf Oachkatzl samt ihrer Schweife flink in unsere Richtung huschten. Luis und seine Nussschachtel waren gut. Ich hatte Eichhörnchen noch nie aus dieser Nähe gesehen. Ertappte ich mich dabei, sie außerordentlich niedlich zu finden? Vor allem ihren buschigen Schwanz und die Art, wie sie ihre Nüsse knabbern. Leider sind die Tiere dann doch so menschenscheu, dass man sie nicht streicheln kann.

Aber eben auch nicht fangen. So sind Eichhörnchen wie ein lebendiges Symbol für Freiheit. Die Tiere, der Oktober und sein Duft lassen mich einen meiner letzten Herbste in Syrien vergessen, fast zumindest.

Anders als die Kirchseeoner Eichhörnchen geriet ich mehrmals in Gefangenschaft. Einmal brachten die Wärter halbgekochte Kürbisstücke auf kleinen Tellern. Ich und meine Mithäftlinge, wir schlangen die Mahlzeit regelrecht hinunter. Doch die Kürbisstücke waren mit winzigen Kieselsteinen vermischt, die beim Essen Wunden im Mund verursachten. Eine Art der Demütigung und Folter.

Nun kippe ich frische Kürbiscremesuppe in Schüsseln und garniere sie mit finsterem Öl, einer Sahnehaube und tunke Bauernbrot in die Suppe. Mit jedem Herbst in diesem Land ist meine Verbindung zu Kürbissen intensiver geworden. Was nicht an der Fratzen-Hülle der Halloween-Freunde liegt, sondern am Inhalt. Wenn das Wetter kalt ist und Laub fällt, stehe ich in der Küche und bereite die köstlich-farbige Suppe zu. Der Kerker ist weit weg, bei mir entsteht ein Gefühl wie beim Plätzchenbacken zur Weihnachtszeit. Das Leben schmeckt besser, wenn man hinter die Schale blickt.

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