Der Mann trug ein weißes Hemd und eine eigentümliche Unterbekleidung. Es handelte sich dabei um ein recht eng geschnittenes lederartiges Hosenkonstrukt, das unterhalb der Kniewölbung endete. Mir fielen alsbald mehrere ähnlich gewandete Gestalten auf, die sich durch München bewegten. Nicht wenige Männer, die sich so kleiden, werden von einer Frau begleitet, oder besser: gestützt. Der Mann wählt dieses Outfit, um darin schwankend voranzuschreiten. Die Begleiterin ist indes in ein langes Kleid gehüllt samt einer Bluse, die zu eng sein muss.
In diesen Tagen sind viele solcher Duos in Richtung Grafing unterwegs. Es zieht sie dorthin, weil ein großes Zelt aufgebaut wird. Zelt und Zeltdach sind zweckmäßig, weil drinnen Musikanten auf einer Bühne musizieren - und nicht sonderlich scharf darauf sind, dass ihre Instrumente vom Regen durchnässt werden. Ansonsten befeuchten sich die Teilnehmer sogenannter Frühlingsfeste vor allem von innen. Und hier nahm mein Dilemma seinen Anfang.
Warum braucht man zur Begrüßung dieser schönen Jahreszeit ein Fest, dessen Kern daraus besteht, sich dem freien Himmel zu entziehen und gequetscht auf unbequemen Holzbänken zu sitzen? Wie kann es sein, dass sich die Menschen in diesem Teil der Welt gar freiwillig hineinbegeben, um dort zu völlig utopischen Preisen gefüllte Bierkrüge zu leeren, ehe sie mit leerem Portemonnaie und voller Rübe eine beschwerliche Heimreise antreten?
Gut, ich musste mir das natürlich trotzdem einmal genauer ansehen. Ehe man so ein Zelt betritt, kommen einem Begleiterscheinungen unter, die durchaus eine Würdigung wert sind. Zum Beispiel die Bratwurst- oder Crêpe-Stände. Die Schießbuden und Fahrgeschäfte sind ebenfalls eine Erwähnung wert, weil sie eine Art Oase sind. Lediglich auf einem Volksfest ist es üblich, sturzbetrunken mit Waffen zu hantieren, und sich anschließend ans Steuer zu setzen.
In Syrien starten viele Familien mit dem Frühjahrsputz in den Frühling. In Bayern ist ein anderes Phänomen verbreitet: der Frühjahrssuff. Das Gute ist, dass man an diesem Ritual auch teilnehmen kann, wenn man die Tagesordnungspunkte "Oana geht no", "Bier her oder i foi um" überspringt. Man flüstert der Bedienung zu, sie möge Apfelschorle in den Masskrug füllen, schon schunkelt es sich mit an den Biertischen. Und so stehe ich nun selbst seit vielen Jahren auf den Bierbänken des Grafinger Volksfests, trage dieses eigenartige lederne Hosenkonstrukt und singe Verse wie "Ich schwanke noch".
Neben mir sitzt oder steht dann meine Frau Hanna, natürlich im - wie es sich gehört - zu engen Dirndl. Im Zelt verschwimmt alles miteinander, die Musik, die Menschen, der Bierdunst. Es fühlt sich gut an, ein ganz normaler Teil dieser Zeltgesellschaft zu sein. Meine Frau und ich, wir fallen nicht aus der Rolle - außer ganz am Schluss: weil wir als einzige nicht aus dem Zelt schwanken.