Süddeutsche Zeitung

Typisch deutsch:Fleißsternchen für den Chef

Unser Autor machte in München die Erfahrung, dass Chefs nicht zwingend Sklaventreiber sein müssen. So kannte er es aus seinem Heimatland.

Kolumne von Olaleye Akintola

Nordwestlich von München gibt es ein Lokal, dessen Servicepersonal alle Sterne dieser Welt verdient hätte. Die Kellner sind ausgesprochen freundlich. Hielte man statt einer Gabel ein Zepter in der Hand, wäre der königliche Gemütszustand perfekt. Erstaunlicherweise schafft es einer der Bediensteten, aus all dem Herausragenden sogar noch herauszuragen. Er räumt den Tisch mit sehr viel Entschlossenheit und Schmackes ab, schneller als ein Dieb in einem Schmuckladen. Er serviert und nimmt gleichzeitig Bestellungen auf - wischt in Lichtgeschwindigkeit den Boden und huscht in die Küche. Dort wirft er sich eine weiße Schürze über, rührt Salatsoßen an und zerkleinert Hühnchen.

Was für eine Allzweckwaffe, dieser Mann. Wahrscheinlich hat er das Huhn auch noch eigenhändig gerupft und den Salat gepflanzt. Ich war gerade am Grübeln, wie viel Trinkgeld ich diesem hyperaktiven Arbeiter wohl geben werde, als ich beobachtete, wie eine Bedienung auf ihn zukam und ihn mit "Chef" ansprach. Erst jetzt wurde mir klar: Der fleißige Mann war kein normaler Ober, sondern der Oberboss dieses Lokales.

Viele Chefs, die ich kannte, saßen seinerzeit in Nigeria in einem komfortablen Büro und bellten ihren Untergebenen Befehle zu. Je mehr ein Chef nach einem Sklaventreiber klang, desto mehr Respekt hatte die Belegschaft vor ihm. Chefs delegieren Aufgaben an jene, die sie für am fähigsten und vertrauenswürdigsten halten. Manchmal ist dann aber irgendwann der Punkt erreicht, an dem ein Mitarbeiter Firmengelder veruntreut. In so einem Fall geht es meist schneller als es dem Chef lieb ist: Die Bank gewährt keine Darlehen mehr - und die Firma ist ruiniert.

Je länger ich den Großraum München kenne, desto häufiger fallen mir Chefs auf, die ihre Rolle ganz anders interpretieren. Sie sind wie Götter, die von ihrer Wolke heruntersteigen und sich mit ihren Superkräften unter das gemeine Arbeitervolk mischen. Meistens gut getarnt.

In München gibt es eine Apotheke, bei der ich zum Stammkunden geworden bin. Wann immer es drückt oder zwickt, öffne ich die Tür, beim Hereingehen bimmelt eine Glocke, und hinter dem Tresen steht ein etwa 60 Jahre alter Mann und begrüßt mich wie viele andere seiner Kunden mit Namen. Bei jeder Medizin, selbst bei Hustensaft, wird man von ihm detailliert beraten. Wann immer man ihn dort trifft, lächelt er. Und wenn er besonders gut gelaunt ist, beschenkt er seine Kunden mit Lutschbonbons und Taschentüchern.

Eines Tages stand er nicht mehr hinter dem Tresen. Stattdessen stand dort nun eine Frau in weißem Kittel. Wo ihr Kollege sei? Ich war in großer Sorge, ehe sie mir erklärte, dass der "Kollege" ihr Chef sei und in einer Art Zwangsurlaub weile. Dafür habe es enorme Überredungskunst gebraucht. Erst das Argument Gesundheit habe gezogen. Auch das ist Teil der Münchner Chefmentalität. Viele von ihnen handeln nach dem Prinzip: Wenn du willst, dass ein Job gut erledigt wird, dann erledige ihn selbst. Solche Chefs müssen aufpassen, dass sie nicht zu ihrem eigenen Sklaventreiber werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Korbinian Eisenberger

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SZ vom 08.11.2019/vewo
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