Typisch deutsch:Ein roter Löwe

Typisch deutsch: Ein Moment mit historischem Seltenheitswert: Bayern-Torwart Oliver Kahn (links) und 1860-Spieler Thomas Häßler in der Bundesligasaison 1999/2000 bei einer Umarmung im Lokalderby.

Ein Moment mit historischem Seltenheitswert: Bayern-Torwart Oliver Kahn (links) und 1860-Spieler Thomas Häßler in der Bundesligasaison 1999/2000 bei einer Umarmung im Lokalderby.

(Foto: Sven Simon/Imago)

Kann ein Mensch gleichzeitig Fan vom TSV 1860 und vom FC Bayern sein? Für viele wäre es kaum denkbar, doch unser Autor hat seine ganz eigene Erkenntnis.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf, München

Eingefleischte Sechzgerfans sind gerne tätowiert, die Jeansjacke muss abgewetzt und abgetragen aussehen, oberbayerischer Dialekt ist Pflicht, gern auch rustikal im Wortschatz. Zwingend erforderlich ist zudem eine Flasche Bier in einer Hand. Selten mit alkoholfreiem Inhalt. Letzteres stellt ein Hindernis für mich als Muslim dar. Aber eine Chance musste ich dem Ganzen dennoch geben.

1860 gegen Dortmund, Pokal, erstes Heimspiel. Walter stand schon immer in der Kurve, für mich war es die Premiere im Grünwalder Stadion zu Giesing. Ich trug ein Trikot von Bayern München und darüber ein blau-weißes offenes Hemd. Vor dem Stadion drohten mir ein paar Fans, dass sie sich angesichts des Trikots auf mich stürzen würden. Also schloss ich das Hemd und versteckte die rote Farbe, die hier nicht als Farbe der Liebe anerkannt wurde.

Wir betraten das Stadion der "Löwen". Während des Krieges in Syrien hatte ich mich ja entschieden, nach Deutschland zu fliehen. München war dabei ein Stück weit meine Hoffnung. Weil ich seit meiner Kindheit eine Schwäche für den FC Bayern hege. Die Löwen hingegen, die hatte ich eher weniger gern. Auch wegen Syriens Machthaber Bashar al-Assad, einer meiner Fluchtgründe. Sein Nachname bedeutet "Löwe".

Mein Kumpel Walter sieht von Drohungen ab, doch kommentiert stets, wenn ich meinen roten Bayern-Schal trage. Aus seiner Sicht stünde mir blau deutlich besser. Er versuchte, mich zu überzeugen, dass es sich bei den Sechzgern um den großartigsten Verein der Welt handle. Ich fand diese Einordnung erstaunlich, angesichts der drittklassigen Liga des Klubs. Also dachte ich: Das muss ich mir mal anschauen.

Ich ging in Begleitung von Walter, der schon vor 50 Jahren in der Löwenkurve saß. Ich wollte die Faszination dieses Vereins verstehen - und Walter wollte die Situation für seine Belange nutzen. Er bat mich darum, ein Gespräch mit dem jordanischen Löwen-Investor Hasan Ismaik zu führen. Der solle endlich gute Spieler kaufen, meinte Walter. "Er versteht dich doch auf Arabisch!"

Die Atmosphäre im Stadion: ausgelassen. Die weiß-blaue Farbe im Stadion wirkt wie ein tobendes Meer mit hohen Wellen. Das Publikum war überwiegend blau gekleidet, manche Schwarz-gelbe waren auch blau. Insgesamt sind deutsche Fußballfans nicht gerade auffällig auf Nüchternheit bedacht. Und dann sah ich es.

Ein Fan mit einem Schal, der je zur Hälfte weiß-blau und schwarz-gelb war. Ein Schal mit dem Wappen beider Kontrahenten. Unter dem Schal bewegten sich zwei Fans aus offenbar beiden Lagern. In einem waren sie sich offenbar einig, wie ihrem Gesangsstück zu entnehmen war: ihrer Abneigung gegen den FC Bayern.

Champions-League-Teilnehmer Dortmund ließ den Löwen keine Chance. 3:0 für den BVB hieß es am Ende. Dennoch verzichteten die unterlegenen Fans auf Beschimpfungen oder Handgreiflichkeiten. Bis spät in die Nacht waren in Giesing gemeinsame Fangesänge zu vernehmen, meist handelten sie vom FC Bayern, und es waren keine Lobeshymnen. Ich war sehr froh um mein Hemd über dem Trikot.

Was haben Kaiserslautern, Dortmund, St. Pauli, Rapid Wien, der 1. FC Nürnberg und der 1. FC Köln gemeinsam? Mit diesen Vereinen wird den Löwen eine Fanfreundschaft nachgesagt. Die Rivalität zwischen dem FC Bayern und dem TSV 1860 aber ist geblieben. Christian Ude, Münchens ehemaliger Oberbürgermeister, ist ein Blauer, obgleich er politisch ein Roter ist. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich in der kommenden Saison beiden die Daumen drücke. Ich bin ein roter Löwe.

Typisch deutsch

Ihre Flucht hat drei Journalisten nach München geführt. In einer wöchentlichen Kolumne schreiben sie, welche Eigenarten der neuen Heimat sie mittlerweile übernommen haben. Alle Texte dieser Reihe finden Sie unter sz.de/typisch

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