Wie fühlt man sich als Mumie? Vielleicht so: Man blickt in seiner im Öllampenlicht flackernden Grabkammer auf das Unterteil seines goldenen Sarkophages hinab, über den ein Skarabäus krabbelt. Hübsche Götterbilder an den Wänden, denkt man. Däumchen drehen geht schlecht, so eingewickelt. Recht fad für die Ewigkeit. Immerhin, die Stimme im Kopf beginnt zu sprechen: „Ich wache auf in meinem Grab, mein Herz schlägt wieder, langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht des Todes.“ Und dann geht es los, vorbei an den vielen goldenen Beigaben den langen Gang hinauf – hinein in das dunkle Zwischenreich, mit speienden Vulkanen, ein ägyptisches „Herr der Ringe“-Mordor. Weiter in die Halle des Seelengerichts zu Füßen der 42 Götterriesen. Wird die Seele in die seligen Gefilde Iaru weiterreisen dürfen? Oder wird sie von Ammit gefressen, dem Nilpferd mit Krokodilskopf, das sein Maul schon aufreißt …
Ganz schön aufregend, solch eine Totenreise. Auch wenn man nur auf einem Drehsessel sitzt und alles über eine Virtual-Reality-Brille erlebt. Schaudern wechselt sich ab mit Staunen über all die Schönheit hier im „immersiven Ausstellungserlebnis“ über Tutanchamun. Er ist die neue Multimedia-Schau aus dem zum Klassikveranstalter Münchenmusik gehörenden Hause Alegria Exhibition. 100 000 Besucher sahen zuletzt die Dalí-Schau mit Originalen in der Philharmonie, den Rekord hält man aber mit 180 000 bei „Monets Garden“ in der Utopia-Halle (und insgesamt 1,5 Millionen weltweit von New York bis Wien), sagt Geschäftsführer Nepomuk Schessl.
Jetzt soll der berühmteste aller Ägypter die Massen locken: Tutanchamun. Die Chancen stehen gut, 1980 standen 600 000 Neugierige Schlange am Haus der Kunst, um 55 letztmals reisende Originalstücke aus seinem Grab inklusive der Goldmaske zu sehen; und auch die Ausstellung mit etlichen Replikaten seiner Schätze 2015 im Olympiapark lief prächtig. Ein paar hübsche Nachbildungen sind nun auch im Utopia zu sehen, natürlich die Totenmaske (aus Blech, nicht aus zehn Kilo Gold), aber zum Beispiel auch eine blaue Nackenstütze – der Tote sollte es bequem haben. Berührend sind auch die feinen Zeichnungen und Tagebucheinträge – selbst als Kopien – des Entdeckers Howard Carter. Alles stammt aus dem Besitz von Nacho Ares. Der spanische Ägyptologe hat die Ausstellung 2022 in Madrid zur 100-Jahr-Feier der Öffnung des Grabes zusammen mit Alegria entwickelt. „So haben Sie das Alte Ägypten noch nie erlebt!“, lautet das Versprechen. Es wird erfüllt.
Natürlich lernt man auch etwas, hier bekommt man von Tut und seiner Blase zumindest etwas Ahnung. Die Familienverhältnisse sind kompliziert und noch ziemlich ungelöst. Sehr wahrscheinlich war er, der von 1332 bis 1323 vor Christus regierte, der Sohn von Echnaton, der mit Nofretete verheiratet war, die aber wohl nicht Tuts Mutter war … „Ich bin Akademiker, ich habe mich an die Fakten gehalten“, sagt der Ägyptologe Ares. Zu Tuts Tod gebe es 25 Theorien, jeweils eine andere von jedem Arzt, der die Mumie untersucht hat. Er glaubt, der etwa 19-Jährige sei an einer Infektion im linken Bein gestorben.
Alle Informationen hier stammen von Ares, auch die Sprechtexte für das Herzstück der Ausstellung, in das man vorbei an schwebenden Sarghüllen und durch Gänge wie Katakomben gelangt: den rundum strahlenden Multimediaraum. Hier lässt sich der Gast auf Sitzwürfeln nieder, ekelt sich etwas vor (projiziertem) Krabbelgetier am Boden, und staunt über die Schöpfungsgeschichte (wie der biblische Gott töpferten die noch älteren Götter Khnum und Heqet den Menschen), über Tempel, wie sie einst bunt erstrahlt haben mögen, und über Tut, der die „Kunstwerke voller magischer Symbolik“ in seinem Grab erklärt oder die Bilder an den Wänden.
Die werden als Comics lebendig, voller netter Details, wie einer der heiligen Pavian-Wächter, der sich am Hintern kratzt. Sehr anschaulich und mitreißend lernt der Gast die Tausende Jahre alte Gedankenwelt kennen – das hat sogar die Ägypter beeindruckt: Genau diese Multimedia-Schau ist auch im werdenden Großen Ägyptischen Museum in Kairo zu sehen, wo die 5500 Originale ausgestellt oder verwahrt sind. Nacho Ares durfte einige davon schon berühren – er deutet noch sichtlich gerührt auf den kindlichen Tut als Holzköpfchen, das im projizierten Tempel gerade aus einer Lotosblüte erscheint.
Aber was hat das Alte Ägypten und seine verschwundene Religion noch mit dem heutigen München zu tun? Eine Menge, erklärt Ares. Auf dem Handy zeigt er ein Bild von Göttin Isis mit Söhnchen Horus im Arm – „wie Jungfrau Maria mit dem Jesuskind“. Der Altar in christlichen Kirchen sei wie in ägyptischen Tempeln nach Osten zur aufgehenden Sonne ausgerichtet. Und ganz alltagsnahe Erfindungen aus der „Wiege der Zivilisation“: Bier. Und Augen-Make-up – Kajal und grüne Kupferpaste dienten zum Schutz vor der Sonne.
Und wem verdanken wir viele dieser Erkenntnisse? Forschern wie Howard Carter, der Tutanchamuns Grab ausgrub. Auch in seine Rolle kann der Besucher schlüpfen. Erneut mit einer VR-Brille, aber diesmal frei beweglich im Raum (ein sogenanntes „Metaversum“ wie bei Dalí) schleicht man sich unterm Sternenhimmel durch Carters Grabungslager, blättert mit virtuellen Lederhandschuhen durch seine Notizen oder lässt ein altes Grammofon spielen. Das ist wie ein Zauber, und tatsächlich hat man Superkräfte, fliegt ins Tal der Könige ein, stapft dort durch die Felsen hindurch und enthüllt dabei die Grundrisse der 64 Gräber im Untergrund. Nummer 62 ist übrigens das von Tut.
Hätten doch die Forscher solche Cyber-Werkzeuge, dann könnten sie einfach durch die Nord- und West-Wand von Tuts Grab gehen und nachschauen, ob sich dort weitere Schatzkammern verbergen, wie zuletzt der Ägyptologe Nicholas Reeves aufgrund von Putz-Scans nachzuweisen versuchte. „Ich denke auch, da ist noch etwas, wenn auch nicht Nofretetes Grab“, sagt Nacho Ares. Er wäre schon auch neugierig, „aber lassen wir ruhig auch den kommenden Generationen ein paar Geheimnisse übrig“.
80000 Besucher haben die Multimedia-Schau in München bereits gesehen (in Deutschland insgesamt 600000). Daher hat der Veranstalter die Ausstellungs über den 26. Januar hinaus gerade verlängert. Besucher können sich nun bis 12. März Termine im Utopia reservieren und ins Alte Ägypten eintauchen.
Tutanchamun – das Immersive Ausstellungserlebnis, bis 12. März, täglich 10 bis 21 Uhr, München, Utopia (ehemalige Reithalle), Heßstraße 132, Tickets ab 27 Euro, www.tutanchamun-immersiv.de