Süddeutsche Zeitung

TSV 1860 München:Brüchiger Sehnsuchtsort

Das Grünwalder Stadion wird 100 Jahre alt. Doch zum Feiern ist den Löwen derzeit nicht zumute. Dennoch träumen viele Fans von einer Rückkehr an die Stätte der größten Erfolge.

Wolfgang Görl

100 Jahre Grünwalder Stadion - das Jubiläum wäre ein Anlass, es richtig krachen zu lassen. Doch vielen Löwenfans ist nicht sonderlich nach Feiern zumute, weil das Profiteam ihres Vereins schon seit langem nicht mehr in der mit zahllosen Erinnerungen und Legenden aufgeladenen Betonschüssel auf Giesings Höhen spielt, sondern in der Arena zu Fröttmaning, wo bargeldlos bezahlt wird und Lachshäppchen zu Prosecco gereicht werden - und wo, zu allem Überfluss, der FC Bayern Hausherr ist und der TSV 1860 der finanziell überforderte Untermieter.

Der Weg zurück nach Giesing ist übersät mit Hindernissen - vielleicht führt er nur über die Insolvenz, mit allen Konsequenzen: Grausame Spiele gegen Dorf- und Kleinstadtvereine, dazu das Risiko, ewig unten stecken zu bleiben. Und was wäre, würden die Löwen nach ein paar Jahren doch wieder in die Zweite Bundesliga aufsteigen? Dann wäre ihnen das Grünwalder Stadion erneut versperrt, denn auch nach der zehn Millionen teuren Sanierung, die der Stadtrat beschlossen hat, wäre die alte Löwengrube nur für die Dritte Liga zugelassen. Zumindest die Abrisspläne sind fürs Erste vom Tisch, immerhin dies ein Grund zum Feiern. Sonst aber gilt: Bonjour Tristesse.

Das erste Spiel an der späteren Kultstätte wurde am 23.April 1911 angepfiffen. Die Sechziger traten gegen den MTV 1879 an und siegten 4:0. Das Gelände, eine bis dahin landwirtschaftlich genutzte Fläche, hatte der damalige 1860-Vizepräsident Wilhelm Hilber gepachtet, und um den Sportplatz auch für verwöhntere Zuschauer attraktiv zu machen, baute man eine Sitztribüne aus Holz, die bei den Münchnern unter dem Namen "Zündholzschachterl" firmierte. In den folgenden Jahren wurde die Spielstätte Zug um Zug ausgebaut, das bedeutendste Projekt war gewiss die Errichtung der Stehhalle im Jahr 1926.

Rund 35.000 Menschen passten danach in das Stadion, das zur größten Arena Süddeutschlands wurde und den Namen des Löwen-Präsidenten Heinrich Zisch erhielt. Aber Sechzig wäre nicht Sechzig, hätte man nicht bald wieder einen Rückschlag zu verkraften. Die Finanzen des Vereins waren so marode, dass die Löwen 1937 gezwungen waren, ihre Heimat für 357.360 Reichsmark an die Stadt München zu verkaufen. Während des Krieges wurde die Arena, die seit 1941 Städtische Hanns-Braun-Kampfbahn hieß, bei zwei Fliegerangriffen schwer beschädigt.

Nachdem man das Stadion in der Nachkriegszeit wieder aufgemöbelt hatte, kam es am 14.April 1948 zum denkwürdigen Spiel gegen den 1.FC Nürnberg, bei dem 58200 Zuschauer den 2:1-Sieg der Löwen sahen. Nie zuvor und nie wieder danach waren so viele Menschen im Grünwalder Stadion. Dessen ganz große Zeit kam in den sechziger Jahren. Zur Premiere der eben gegründeten Bundesliga empfingen die Löwen am 24.August 1963 Eintracht Braunschweig (1:1), und in der Saison 1964/65 war das Stadion der Schauplatz des Sechziger-Siegeszuges im Europokal der Pokalsieger, der erst in der 2:0-Finalschlappe gegen West Ham United in London sein Ende fand.

Und dann der Deutsche Meistertitel 1966, das tolle Team um den genialisch verrückten Torwart Petar Radenkovic und den trinkfreudigen Rudi Brunnenmeier: Wer beim entscheidenden 1:1 gegen den Hamburger SV im Stadion war, vergisst den Tag nicht mehr. "Es gibt nichts Größeres", sagt Manfred Wagner, der Vorstopper der Meister-Elf. "Das Grünwalder Stadion hat eine außergewöhnliche Atmosphäre. Die Gegner waren schon beeindruckt."

Das sportliche Auf und Ab der Löwen in den folgenden Jahrzehnten brachte es mit sich, dass die Mannschaft mal in Giesing, mal im Olympiastadion spielte. Durch den Umzug in die Allianz-Arena sowie eklatante Misswirtschaft geriet der TSV 1860 schließlich in jene babylonische Gefangenschaft, in der er bis heute steckt. Das Sechzger-Stadion aber bleibt der Sehnsuchtsort vieler Löwenfans, nicht zuletzt, weil es anders ist als die modernen Event-Arenen: brüchig zwar und ein wenig verkommen, aber ausgestattet mit dem herben Charme Giesings, ein Kulturdenkmal aus einer Zeit, in der Fußballer die dritte Halbzeit noch in der Eckkneipe absolvierten.

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Quelle:
SZ vom 23.04.2011/bica
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