Traumforschung:Und wovon träumst Du nachts?

Im Schlaf spielen, lernen, rechnen: Zwei Klinik-Psychiater über Funktion und Wohltaten des Traums. Ein Interview.

Birgit Lutz-Temsch

Im Schlaf hat der Mensch nicht die Herrschaft über sein Gehirn, im Traum erscheint uns manches erschreckender, beruhigender, leichter oder komplizierter. Und jeden Morgen wachen wir neu auf.

Traumforschung: "Das Gehirn ist im Schlaf ein anderes." Psychiatrie-Professor Michael Wiegand im Kontrollraum des Schlaflabors.

"Das Gehirn ist im Schlaf ein anderes." Psychiatrie-Professor Michael Wiegand im Kontrollraum des Schlaflabors.

(Foto: Foto: Robert Haas)

Was in der Nacht passiert, damit befasst sich ein Symposium, das am Samstag in der Technischen Universität von Hans Förstl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Oberarzt Michael Wiegand und der Kunsttherapeutin Flora von Spreti veranstaltet wird.

Hans Förstl: Was haben Sie heute Nacht geträumt?

sueddeutsche.de: Gar nichts.

Förstl: Oh nein. Geträumt haben Sie sicher, Sie können sich nur nicht mehr erinnern. Sie sind vermutlich eine disziplinierte Schläferin, gehen vernünftigerweise nicht zu früh ins Bett, sind psychisch und physisch gesund und stellen sich einen Wecker, bei dessen Klingeln Sie auch aufstehen.

sueddeutsche.de: Meistens, ja. Woher wissen Sie das?

Förstl: Im Schlaf wechseln sich Tiefschlafphasen mit sogenannten Rapid-Eye-Movement-Phasen - in denen wir bevorzugt träumen - ab. Eine Erinnerung an einen Traum ist nur möglich, wenn man direkt aus dem Traum, also aus einer REM-Phase heraus aufwacht - wenn man also zum Beispiel nur noch gedöst hat, oder wenn man im Bett liegt und grübelt und sich Schlaf- mit Wachphasen ablösen. Ihr Wecker holt Sie aber aus einer Tiefschlafphase - und damit sind alle Träume für immer weg.

"Das Gehirn ist ein anderes"

Michael Wiegand: Man muss dabei allerdings beachten, dass Erinnerungen an Träume immer Rekonstruktionen sind, die der Mensch macht, wenn sein Gehirn in einem anderen Zustand ist, als zu dem Zeitpunkt, zu dem er träumt. Das Gehirn ist beim Träumen in einem dritten Aggregatzustand neben dem Wachsein und dem Tiefschlaf. Da sind Zentren aktiviert, die im Wachen längst nicht so aktiv sind, dafür sind andere völlig ausgeknipst. Das Gehirn ist ein anderes.

sueddeutsche.de: Welchen Sinn hat es, dass unser Gehirn seine Kontrollfunktion ausschaltet?

Wiegand: Das Gehirn kann dann Möglichkeiten durchspielen, für die es im Wachzustand zu starr ist. Eine Art Offline-Probe für das Leben. Für Freud war der Traum eine halluzinatorische Wunschvorstellung, der Alptraum ein Störenfried. Doch der Traum, auch der Alptraum, hat eine andere Funktion: Er kann uns darauf vorbereiten, was auf uns zukommt. Denn die Natur ist nicht an der Befriedigung unserer Wünsche interessiert, sondern am Überleben.

Förstl: Das ist eine Sichtweise aus dem Darwinismus, die sich in den letzten 20 Jahren in der Psychiatrie und anderen Bereichen durchgesetzt hat: Im Wesentlichen sind unsere Organe darauf ausgelegt, durchzukommen, das Genmaterial weiterzugeben, und nicht, um Bedürfnisse auszuleben. Deshalb haben Träume eine wichtige Funktion in der Vorbereitung auf Risikosituationen.

sueddeutsche.de: Das heißt, wir werden im Schlaf klüger?

Und wovon träumst Du nachts?

Förstl: Tatsächlich lernen wir im Schlaf weiter: Wenn man Ratten, an deren Gehirne man Elektroden angeschlossen hat, in einem Labyrinth ein Stück Käse suchen lässt, dann werden im Gehirn bestimmte Muster von Elektroden angeregt.

Traumforschung: "Wir lernen im Schlaf." Hans Förstl, Direktor der Klinik für Psychologie und Psychiatrie in München.

"Wir lernen im Schlaf." Hans Förstl, Direktor der Klinik für Psychologie und Psychiatrie in München.

(Foto: Foto: Andreas Heddergott)

Wenn die Ratte hinterher schläft, wird genau dieses Elektrodenmuster in umgekehrter Reihenfolge angesprochen - die Ratte lernt. Damit sie am nächsten Tag schneller zum Käse kommt.

Wiegand: Durch Untersuchungen wie diese gibt es heute sensationelle Erkenntnisse: Bis vor 20 Jahren bestand die Traumforschung im Bewusstsein des ,,gebildeten Laien'' nur aus Freud und Jung. Die Psychoanalytiker galten als die einzigen, die sich so intensiv mit dem Traum beschäftigt haben.

Heute stellt man fest, dass es frappierende Übereinstimmungen gibt mit dem, was sich Freud vor hundert Jahren ausgedacht hat, und dem, was man mittels neuer Techniken viel genauer fassen kann, zum Beispiel durch bildgebende Verfahren, durch die wir die Hirnzustände sehen können, in denen sich Träume abspielen.

Von der Ausschaltung des kritischen Verstandes

Förstl: Wobei viele überbordende Interpretationen Freuds meiner Meinung nach sehr esoterisch und nicht wissenschaftlich beweisbar sind. Freud legt sich viel zu sehr fest, gibt gerade dem Spielerischen viel zu wenig Raum.

Wiegand: Das ist richtig. Trotzdem ist der heutige Rückschluss auf Freud sensationell: Wegen seiner in frühen Schriften dargestellten Vorstellungen vom Traum und seiner Funktion, zum Beispiel der Ausschaltung des kritischen Verstandes. Wir sehen jetzt, dass das wirklich so ist.

sueddeutsche.de: Haben Träume dann überhaupt eine Bedeutung oder sind sie reine Zufallsprodukte?

Wiegand: Wenn man das in einem Satz beantworten könnte! Da gibt es schon seit den alten Griechen zwei kontroverse Positionen: Laut Platon sind Träume der Zugang zu etwas, das höher ist als wir, laut Aristoteles nur Geflimmer. Diese beiden Lager ziehen sich durch die Philosophie und den wissenschaftlichen Umgang mit dem Traum - bis heute.

Was wir heute sagen können, ist: Das den Träumen zugrunde liegende Geschehen, nämlich die kognitive oder mentale Aktivität im Gehirn, die sich vornehmlich im REM-Schlaf abspielt, die hat offenbar eine Funktion, denn sonst gäbe es sie nicht.

Förstl: Man kann sich zum Beispiel besser an tagsüber gelernte Lateinvokabeln erinnern, wenn man ungestörte Tiefschlafphasen hat. Übt man dagegen Geschicklichkeitsspiele und hat in der Nacht gute REM-Phasen, kann man sie am nächsten Tag besser, als wenn man in den REM-Phasen gestört wird.

sueddeutsche.de: Könnten dann Sportler ihre REM-Phasen künstlich verlängern, um in der Nacht noch mehr zu trainieren?

Förstl: Das wäre nicht wünschenswert. Man sollte die Schlafarchitektur nicht durcheinanderbringen. Das Gehirn hat im Schlaf - abgekoppelt von der Umwelt - die Chance, sich selbst wieder in einen harmonischen Zustand zu versetzen. Und das braucht man, um am nächsten Tag wieder fit zu sein.

Manches wird real

sueddeutsche.de: Das klingt alles sehr funktionell, wenig nach dem Geheimnisvollen, das Träumen innewohnen kann. Was hat es zum Beispiel mit Vorahnungen im Traum auf sich?

Förstl: Es gibt uralte Literatur über Ahnungen, dass also ein Mensch an dem einen Ort spürt, was an dem anderen Ort vorgeht. Dabei hat er in Wirklichkeit ein bisschen gedöst, und das Gehirn hat in der Zeit etwas herumgespielt und gerechnet, was alles passieren kann.

Ich glaube, dass das Gehirn verrechnen kann, was alles möglich ist, und dass einige dieser Rechenergebnisse durchaus plausibel sind und tatsächlich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit real werden. Wenn das passiert, fällt uns das natürlich auf. Unzählige andere Szenarien, die sich unser Gehirn ausmalt, werden aber nicht real.

Wiegand: Der Traum ist durchaus auch als eine Wohltat zu sehen, der großes schöpferisches Potenzial innewohnt. Deshalb nehmen an dem Symposium auch Literaten teil. Auch mein Entschluss, vor etwa fünfundzwanzig Jahren nach München zu kommen, ist aus einem Traum geboren. Ich bin aufgewacht und endlich war mir klar: Ich muss nach München.

Förstl: Das war aber wahrscheinlich auch eine Art Pseudo-Halluzination! Wirklich, man muss unbedingt kritisch bleiben: Sobald das Gehirn in einen anderen Aggregatzustand kommt, kann man nicht mehr richtig über das berichten, was vorher war. Ich vermute, dass sich bei Ihnen vieles im Schlaf zusammengefügt hat, was vorher nicht so war, und dass Sie das im Schlaf so aufgeregt hat, dass Sie aufgewacht sind.

So wie dem Chemiker Kekulé beim Dösen eingefallen ist, wie das Benzol aufgebaut ist. Da hat das Gehirn auch Möglichkeiten durchgespielt, für die sein Denken im Wachzustand zu starr war. Und als das Kontrollelement weg war, ist sein Gehirn spielerisch auf die Lösung gekommen.

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