Trauerbewältigung:"Jedes Jahr mit Anna war ein geschenktes Jahr"

Nach einem schweren Schicksalsschlag begann er ein neues Leben

Dem Schicksal die Stirn bieten: Mathias Brandstätter mit Anna.

(Foto: Privat)

Mathias Brandstätter arbeitete erfolgreich als Physiker. Dann erkrankt seine Tochter unheilbar und stirbt später. Er verliert seinen Job - und schafft einen Neustart.

Von Renate Winkler-Schlang

Naturwissenschaftler mögen Zahlen: Mathias Brandstätter, Jahrgang 1960, studierter Physiker, hat die Abschnitte seines Lebens durchnummeriert: "Mein Leben 1.0, 2.0 und 3.0." Schicksalsschläge haben es zwei Mal komplett umgekrempelt. Im Herbst 1999 erfahren er und seine Frau Karin May-Brandstätter, dass ihre damals zwei Jahre alte Tochter Anna unheilbar krank ist. Brandstätters bis dahin heile Welt ist in den Grundfesten erschüttert. Und im Dezember 2012 weiß er, dass seine Firma ihn nicht mehr brauchen wird. Seine schöne Karriere ist jäh zu Ende. Heute gestaltet er in seinem Stadtteil Berg am Laim in zwei Minijobs und einigen Ehrenämtern wichtige Umbrüche mit. Er sagt: "Man sollte nicht zu viel planen. Man muss die Augen offen halten für Neues, Chancen ergreifen. Sich was trauen."

Ein kleines Reihenhaus in Berg am Laim. Bienen summen im sympathisch wilden Vorgarten. Drinnen dominieren Fotos von Anna und farbenfrohe, abstrakte Bilder, die sie gemalt hat, den Wohnraum. Anna, die entgegen aller Prognosen 18 Jahre alt geworden ist. Brandstätter kann nicht über sich sprechen, ohne über Anna zu sprechen. Als sie im Juni 1997 zur Welt kommt, ist er natürlich dabei, hält sie stolz auf dem Arm. Das Glück ist perfekt.

Auch zuvor, "in 1.0", war ja alles glatt verlaufen: Behütete Kindheit in Börtlingen im Schurwald nahe Göppingen, eine "Dorfsozialisation", mit kleiner Schwester, Märklin-Eisenbahn, Klavierunterricht. Später spielt er verlässlich jeden Sonntag die Orgel in den Gottesdiensten, auch als er schon in Ulm Physik studiert. Es gibt die Option, zu promovieren, doch der junge Physiker will "jetzt mal was Richtiges tun, raus aus der akademischen Welt". Seine Freundin und spätere Frau arbeitete damals schon als Logopädin in München. "Eine Bewerbung bei Siemens, und die Sache war klar", erinnert sich Brandstätter.

Halbleiter-Technologie: Dort, wo heute die "neue balan" ist, war sein Arbeitsplatz, zunächst im Reinraum mit Ganzkörperoverall. Erst Fertigung, dann Entwicklung. Er betreut und leitet Projekte, die Dienstreisen führen ihn nach Regensburg, Villach, später nach Taiwan, Korea, Singapur. Mit der Halbleiter-Branche geht es auf und ab, drei Mal fällt sein Arbeitsplatz weg, findet sich ein neuer. Neuperlach, Martinstraße, er kommt zu Infineon, arbeitet in Neubiberg. Immer hat er herausfordernde, spannende Aufgaben. Viel Verantwortung, hoher Zeitdruck. Selten schafft er es, pünktlich daheim zu sein, wenn seine Frau zum Yogakurs will.

Tagsüber flüchtet er sich in die Technikwelt

"Ich war eher der Technik-Nerd", sagt Mathias Brandstätter rückblickend mit stillem Lächeln. Auch im Urlaub jeden Morgen die E-Mails zu checken, war für ihn normal. Und für die Freizeit gab es die Dauerkarte vom Deutschen Museum. Alles war gut in dieser Naturwissenschaftler-Welt: sicherer Job, schöne Wohnung, geliebte kleine Tochter, "Bilderbuchfamilie".

Metachromatische Leukodystrophie: Sehr, sehr selten sei diese Autoimmunerkrankung, die Nervenzellen absterben lässt, erzählt Brandstätter an seinem Küchentisch in ruhigem Ton: "Seltener als ein Lottogewinn. Was richtig Brutales." Das ist Annas Diagnose, als die Ärzte untersuchen, warum sie so eckig läuft, sich langsamer entwickelt als andere Kinder. "Die Katastrophe ist da. Und man kommt da nie wieder raus." Verdrängung, Verzweiflung, Spaziergänge am Chiemsee, "man versucht irgendwie zu fassen, dass das jetzt Realität ist, dass es keinen Strohhalm gibt", sagt der Vater. Älter als zehn werde Anna kaum werden, so die Mediziner. Brandstätter staunt selbst, dass sie es irgendwie geschafft haben, das Unerwartete zu akzeptieren, offenbar habe der liebe Gott ihm "ein großes Päckchen an Resilienzkräften" mitgegeben. Brandstätters Leben 2.0 ist trotz Annas Krankheit immer noch das eines erfolgreichen Naturwissenschaftlers, manchmal ist er froh, dass er sich tagsüber in diese Technikwelt flüchten kann. Aber es ist nun auch eines, in der seine Frau und er für Anna und sich selbst "das Beste draus machen" wollen.

Brandstätters drittes Leben

Es ist schwer, aber es gelingt. Das hat mit Liebe zu tun, aber auch mit der Fähigkeit, ein Netz zu knüpfen, dank großer Offenheit Helfer zu finden. Sie machen Ausflüge, gerne in den Zoo. Anna kann mit Zivi in den Nachbarschaftskindergarten, dann in die Schule der Behinderteneinrichtung Pfennigparade, sie erhält beste Pflege daheim, auch wegen des Vereins "Helfende Hände", in dem Brandstätter sich engagiert. Anna bekommt eine treue weiße Schäferhündin, Britney, "weil sie Tiere so liebt". Sie kann nicht mehr gehen, nicht mehr sprechen, die Eltern lernen, aus ihrer Mimik zu lesen. "Die Normalität verschiebt sich. Aber wir haben einfach das Leben weitergelebt. Jedes Jahr mit Anna war ein geschenktes Jahr."

Brandstätter erzählt das alles nicht zum ersten Mal. Er hält immer wieder Vorträge in der Ausbildung von Hospizhelfern. Er hat geholfen, das Kinderhospiz in Bad Grönenbach im Allgäu aufzubauen, hat über die Firmenzeitung Spenden gesammelt. Beim ersten Spatenstich mit Karin Stoiber sieht es so aus, als käme das Hospiz für Anna zu spät, sie ist sehr schwach und krank. Doch sie lebt weiter. Später ist die Familie oft dort, es ist lange der einzige Ort, an dem die Brandstätters Urlaub machen können, ausschlafen, mal zu zweit einkaufen, er genießt den See, den Wald. Sie lernen andere Betroffene kennen, finden Freunde, erleben auch glückliche Momente.

Es hätte so weitergehen können, dieses Leben 2.0. Doch Anfang 2013 kommt der nächste Bruch: "Das Lantiq-Desaster", nennt es Brandstätter. Der Teil von Infineon, in dem er arbeitet, ist verkauft, der neue Eigentümer Lantiq baut die Entwicklungsabteilung ab. Mit 52 ist er plötzlich arbeitslos. Wieder kommt die Erkenntnis, dass man "das Beste draus machen" muss. "Dann ist es halt so. Jetzt hab' ich endlich mehr Zeit für Anna." Er bewirbt sich, wegen Anna nur in Süddeutschland. "Warum sollten die mich nicht nehmen", denkt er sich. Nach 50 Bewerbungen ist das anders, offenbar ist er zu alt, überqualifiziert. Das Arbeitslosengeld läuft aus, das Ersparte schmilzt, "kein gutes Gefühl". 2015, kurz nach ihrem 18. Geburtstag, stirbt Anna an einer Lungenentzündung. Da war nur noch die Trauer.

"Dann hab' ich Bilanz gezogen. Was wäre der Worst Case? Dass keiner mich mehr nimmt? Ich war ja nun schon einige Monate draußen", erinnert sich Brandstätter. Und er erkennt: "Ich glaub', ich werd' auch dann glücklich, wenn ich ganz was anderes mach'." Keine internationalen Projekte mit Dienstreisen, keine Mails am Sonntag.

"Ich hab' heut' vielleicht noch mehr Arbeit als früher", sagt er jetzt, durchaus zufrieden. Ein Großteil davon ist Ehrenamt. Fotografie in einem Arbeitskreis in der Messestadt, das weitet ihm den Blick auch für die Kunst. Er singt im Kirchenchor, er engagiert sich für "Helfende Hände", er tritt dem Bürgerkreis Berg am Laim bei, lässt sich in den Vorstand wählen und senkt dort den Altersdurchschnitt.

Heute koordiniert Brandstätter kulturelle Projekte

Mathias Brandstätter wird wahrgenommen im Viertel. Irgendwann fällt er Meike Schmitt auf, der Stadtteilmanagerin des Städtebauförderungsprojekts Soziale Stadt. Sie fragt, ob er für ein paar Stunden die Woche im Stadtteilladen helfen will. Er traut es sich zu, bringt eigene Ideen ein. Die Soziale Stadt hat sich zurückgezogen, der Trägerverein des künftigen Kulturbürgerhauses hat den Stadtteilladen übernommen - und Brandstätter gleich mit.

Dort trifft er eines Tages auf eine Mitarbeiterin des Evangelischen Bildungswerks, auch sie bittet ihn um Ideen, und er sprudelt nur so. "Womit wollen Sie anfangen?", fragt sie. Und schon hat er den zweiten temporären Minijob, er koordiniert kulturelle Projekte wie den Fotokreis und die Orgelkonzerte für die evangelische Offenbarungskirche und die Rogatekirche, managt deren Pfarrverbandsgründung, macht Öffentlichkeitsarbeit. Kein großer Job, aber immerhin sozialversicherungspflichtig. Und so kommt eines zum andren, er spielt wieder Orgel, neulich hat er für die jungen Menschen, die der Verein AKA in die Arbeitswelt integrieren will, die Bewerbungsfotos gemacht. Spannend und vielseitig, sagt er, sei sein "Leben 3.0".

Oft radelt er zu Annas Grab auf dem Südfriedhof. Damals, als sie das frühzeitig ausgesucht haben, dachte er noch, er würde immer auf dem Weg zur Arbeit in Neubiberg dort vorbeiradeln können. Aber - Mathias Brandstätter weiß es jetzt: "Man sollte einfach nicht zu viel planen."

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