Tradition:Gründungsmythos der Schäffler: So wahr wie die offiziellen Abgaswerte der Autoindustrie

Tradition: Alle sieben Jahre tanzen die Schäffler in München. Und außer der Reihe auch heuer - um den angeblichen 500. Geburtstag der Tradition zu feiern.

Alle sieben Jahre tanzen die Schäffler in München. Und außer der Reihe auch heuer - um den angeblichen 500. Geburtstag der Tradition zu feiern.

(Foto: Imago)

1517 wütete in München die Pest, erst die Schäffler brachten den Lebensmut mit ihrem Tanz zurück. So lernt das bis heute jedes Münchner Kind. Das kann so aber nicht stimmen.

Von Wolfgang Görl

Da die Menschheit ohnehin im postfaktischen Zeitalter lebt, muss es erlaubt sein, diese Geschichte mit einer Legende zu beginnen. Und es ist ja, da gibt es keinen Zweifel, eine anrührende Legende: Anno 1517 tobte die Pest in München, mehrere tausend Einwohner wurden dahingerafft, und wer noch am Leben war, schwebte in dauernder Todesangst. Die Türen blieben verschlossen, nur die Totengräber und Pesträucherer schlichen durch die Gassen. Weil Bauern und Fuhrleute nicht wagten, die Stadt zu betreten, gingen die Lebensmittel zur Neige und die Menschen litten Hunger. Auch als die Epidemie vorüber war, traute sich kaum jemand aus dem Haus.

In dieser trostlosen Lage kam ein Mann auf die Idee, den Münchnern mit einem heiteren Schauspiel den Lebensmut zurückzugeben. Der Mann, dessen Name nicht überliefert ist, übte das Schäfflerhandwerk aus, er zimmerte Holzgefäße aller Art. Schäffler gab es viele in der Stadt, und so hatte er keine Mühe, einige Kollegen zusammenzutrommeln und ein Spektakel einzustudieren. Eines Tages zog die Truppe mit Musik, allerlei Trara und bunten Kostümen durch die leeren Gassen, woraufhin sich die Fenster öffneten und bald auch die Türen. Vorsichtig krochen die abgemagerten und desperaten Bürger aus ihren Häusern, hin zum Marktplatz, wo was los war. Dort drehten sich die Schäffler mit grünbelaubten Reifen im Kreis, dort spielte die Musik, und die "Gretl mit der Butten" trieb derbe Späße. Was für eine Gaudi! Es war wieder eine Lust zu leben.

Jeder, der in München aufgewachsen ist oder hier schon länger lebt, kennt diese Geschichte. Und jeder weiß, dass die Schäffler seither alle sieben Jahre während der Faschingszeit durch die Stadt und das Umland touren, um auf Plätzen, in Schulen, bei Firmen oder auf Bällen ihren choreografisch komplizierten Tanz aufzuführen. In diesem Jahr legen sie eine Sonderschicht ein, das ist Ehrensache, denn es gilt, den ersten Schäfflertanz vor genau 500 Jahren zu feiern. Nach dem traditionellen Turnus dürfte das Fassmacher-Ballett erst 2019 wieder auftreten, aber das wäre ja zu spät für das Jubiläum.

Was jetzt kommt, wird allein um der Wahrheit willen erwähnt und dient keineswegs dem Zweck, den Münchnern die 500-Jahr-Feier madig zu machen. Es ist nur so, dass die Gründungsgeschichte etwa so glaubwürdig ist wie die offiziellen Abgaswerte der Autoindustrie. Das Pestjahr 1517, schreibt der Historiker Thomas Weidner in der Stadtmuseumspublikation "Typisch München", sei frei erfunden. Und tatsächlich: In der Stadtchronik steht von einer Pestepidemie im Jahr 1517 kein Wort, wohingegen etwa in den Pestjahren 1482/83 immer wieder von den Auswirkungen der Seuche die Rede ist. Es wäre schon sonderbar, hätte der Stadtschreiber 1517 eine Epidemie mit Tausenden Opfern für nicht erwähnenswert gehalten. Auch gibt es keine auffallende Zahl von Todesfällen in den damaligen Sterberegistern. Sollten die Schäffler im fraglichen Jahr wirklich erstmals getanzt haben, dann gewiss nicht wegen der Pest.

Aber vielleicht stimmt nur das Datum nicht, vielleicht drehten sie ihren Reigen erstmals im Pestjahr 1548 oder nach der katastrophalen Epidemie 1634, bei der etwa 7000 Münchner umgekommen sind, ungefähr ein Drittel der damaligen Bevölkerung. Möglich wäre das - nur: Es gibt dafür nicht den geringsten Beleg.

Auch Helmut Stahleder verweist in seiner "Chronik der Stadt München" das Pestjahr 1517 ins Reich der Fiktion: "Weder Ratsprotokolle noch Kammerrechnungen enthalten den geringsten Hinweis auf das Herrschen einer Pest. Es gibt weder die üblichen Handelsbeschränkungen noch den Ausfall von Märkten, noch die Bannisierung anderer Orte wegen dort herrschender Pest, noch Quarantäne für anreisende Kaufleute, noch Ausgaben für das Aufschneiden von Pestbeulen durch Hebammen." Im Standardwerk "Der Münchner Schäfflertanz" liefert Günther Kapfhammer eine Erklärung dafür, wie dieses Datum als Premierentermin des Tanzes in die Welt gekommen ist.

Im frühen 19. Jahrhundert brachte der Königliche Baurat Anton Baumgartner die Jahreszahl 1517 in einer stadtgeschichtlichen Broschüre ins Gespräch. Dabei knüpfte er eine Verbindung zu einem Pestbild des spätgotischen Malers Jan Pollack, das im Alten Peter hängt und auf das Jahr 1517 datiert ist. Dazu schreibt wiederum Stahleder: "Das Bild muss sich überhaupt nicht auf eine bestimmte Pest beziehen, und wenn, dann kann diese viele Jahre zurückliegen."

Wenn die Schäffler jetzt trotzdem ihre 500-Jahr-Feier zelebrieren, ist das selbstverständlich in Ordnung, weil Mythen oft eine eigene Wirklichkeit begründen. Die Erfindung der Weißwurst durch den Moser Sepp am 22. Februar 1857 ist ja auch so ein Mythos, der sich für immer ins kollektive Bewusstsein der Münchner eingegraben hat, obwohl der Gastwirt Moser, wie Richard Bauer, der ehemalige Direktor des Stadtarchivs, nachgewiesen hat, lediglich eine Wurst erfand, die es schon gab. Aber es ist eine schöne Geschichte, und noch schöner ist der Schöpfungsmythos des Schäfflertanzes. Dagegen sieht der erste unumstößliche Nachweis seiner Existenz richtig blass aus.

In einem Bescheid vom 22. Februar 1702 genehmigte der Münchner Magistrat den Schäfflergesellen, ihren "gewöhnlichen Schäfflertanz" aufzuführen, "wie es von alters her gebreichig gewesen". Siehe da: Bereits 1702 betrachtete man den Tanz als alten Brauch. Wie alt, lässt sich nicht sagen. Die Spur verliert sich im Dunkel der Stadtgeschichte. Ein schwaches Licht fällt zumindest auf das Jahr 1578: Damals wurde die Zunft der Münchner Schäffler gegründet. Der im Münchner Raum gängige Begriff leitet sich von "Schaff" oder "Schäffel" ab, was hölzerne Gefäße bezeichnet.

Schlange, Laube, Kreuz, dann kommt der Kasperl

Generell ist das 19. Jahrhundert wichtig für die Entwicklung des Schäfflertanzes. Die Choreografie, welche die Tänzer heutzutage einstudieren, stammt vermutlich aus der Biedermeierzeit und hat sich aus einfacheren Formen entwickelt. Das bis heute gültige Regelwerk hat der 1871 gegründete "Fachverein der Schäffler Münchens" festgelegt, der das Spektakel auch veranstaltet. Demnach besteht eine Formation aus 20 Tänzern, einem Fähnrich, zwei Reifenschwingern und zwei Kasperln. Schon nicht ganz leicht ist der Grundschritt, das Hochwerfen der angewinkelten Beine im Takt der Musik. Selbstredend muss das synchron geschehen, zudem formieren sich die Tänzer in der etwa 20-minütigen Vorführung zu immer neuen Figuren, insgesamt sieben.

Da ist die "Schlange", mit welcher der Reigen beginnt, es folgt die "Laube", bei der sich die Tänzer auf verschlungenen Wegen zu einem Knäuel formieren, über dem ihre mit Buchslaub geschmückten Holzbögen ein Laubendach bilden. Die dritte Figur ist das "Kreuz", bei dem die Schäffler sich in vier Gruppen teilen; danach zaubert die Truppe das eindrucksvolle Bild einer Krone aufs Parkett. Aus dieser entwickeln sich die "Vier kleinen Kreise" - und dann wird es richtig laut: Der Kasperl stellt ein Fass auf die Bühne, auf dem drei Schäffler mit dem Hammer den Takt schlagen. Das sieht nach Arbeit aus, und so ist es auch gemeint. "Changieren" heißt dieser Teil der Choreografie.

Dann endlich die Schlussnummer, der Reifenschwung. Dazu bedarf es eines Spezialisten, der logischerweise Reifenschwinger heißt und erst einmal aufs Fass steigt. In jeder Hand hält er einen hölzernen Reifen, auf dessen Innenseite jeweils ein Stamperl Schnaps steht. Die Reifen beginnen zu kreisen, virtuos schwingt sie der Jongleur den Körper aufwärts über den Kopf und wieder hinab. Die Fliehkraft hält den Schnaps im Glas, versierte Schwinger vergießen keinen Tropfen. Noch ein Trinkspruch für den Gastgeber, danach hat es die Tanzcompagnie meist eilig, weil schon der nächste Auftritt auf dem Programm steht.

Auch die Kostüme sind noch heute so beschaffen, wie es der Fachverein in seiner Gründungszeit festgelegt hat: weißes Hemd, weiße Weste, rote Joppe, Lederschurz, Kniebundhose, Schärpe, Haferlschuhe und als Kopfbedeckung eine flaumfedergekrönte grüne Kappe. Andere Traditionen hingegen hielten sich nicht. Ursprünglich war es allein Sache der Gesellen, sich mehr oder weniger anmutig im Kreis zu drehen, was sie schon deshalb gern taten, weil sie damit ihren spärlichen Lohn aufbessern konnten. 1802 notierte der 16-jährige Johann Andreas Schmeller, der später berühmte Mundartforscher: Der Schäfflertanz sei "eine Alfanzerei, die im Grunde nichts als Bettelei ist".

Zu Schmellers Zeiten war es nur ledigen Fassmachergesellen erlaubt, beim Tanz mitzuwirken. Überdies mussten sie einen guten Ruf haben, was den Kandidatenkreis unter Umständen einschränkte. Diese Vorschriften sind längst außer Kraft gesetzt, mittlerweile werden zur Münchner Tanzsaison auch Lokführer, Busfahrer, Banker oder Händler als Schäffler akzeptiert, egal ob sie ledig sind oder nicht. Andernfalls wäre der Brauch längst ausgestorben.

Warum aber tanzen die Schäffler, mit Ausnahme ihrer mechanisch bewegten Ebenbilder auf dem Rathausturm, nur alle sieben Jahre? Genau weiß man es nicht, es sind diverse Theorien im Umlauf. Die einen sagen, der Turnus sei der Pest geschuldet, die alle sieben Jahre ausgebrochen sei. Andere verweisen auf die Sieben als Glückszahl. Auch Herzog Wilhelm IV. (1493-1550) wird mitunter angeführt. Dieser habe den Münchner Schäfflern aus Dankbarkeit das Recht eingeräumt, alle sieben Jahren ihren Tanz aufzuführen. Beweise dafür? Gibt es nicht.

Nun wäre es schön, es gäbe noch eine Legende, welche die gängige Musik des Tanzes, den Ohrwurm mit der Textzeile "Aba heit is koit", einer göttlichen Eingebung oder wenigstens einem berühmten Komponisten wie Orlando di Lasso oder Mozart zuschriebe. Leider ist auch in dieser Sache die Wirklichkeit viel schnöder. Der Komponist ist - da müssen die Münchner jetzt stark sein - ein Franke. Er heißt Johann Wilhelm Siebenkäs (1826-1888), stammte aus Fürth und war am Münchner Hof tätig. Aber halb so wild: Vielleicht war die Melodie ja doch eine göttliche Eingebung.

500-Jahr-Feier

Im üblichen Sieben-Jahre-Turnus stünde der nächste Tanz erst 2019 wieder an. Dass die Schäffler auch heuer tanzen, liegt daran, dass sie den 500. Geburtstag dieser Tradition feiern. Ihr erster Auftritt ist am Dienstag, 21. Februar, um 14 Uhr vor der Staatskanzlei. Vier Tage danach machen die Schäffler auch dem Oberbürgermeister ihre Aufwartung: am Samstag, 25. Februar, um 12 Uhr auf dem Marienplatz. Insgesamt treten die Schäffler 25-mal auf, meist in München, viermal auch im Umland. Zu den großen öffentlichen Auftritten zählen die am Stachus, Rinder- und Viktualienmarkt (23. Februar, 14, 15 und 15.45 Uhr) und am Sendlinger Tor und der Münchner Freiheit (24. Februar, 14 und 15 Uhr). Alle Termine: www.schaefflertanz.com SZ

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