Süddeutsche Zeitung

Pfarrer für Obdachlose:"Ich will den Menschen ihre Würde zurückgeben"

Seit mehr als 30 Jahren ist Toni Weber Münchens inoffizieller Obdachlosenpfarrer. Über einen Mann, der Menschen Zeit, Umarmungen und Fünf-Euro-Scheine schenkt.

Von Kathrin Aldenhoff

Es ist nicht so, dass er sich schon immer um Obdachlose sorgte. Dass er schon immer ihre Nöte kannte; dass er wusste, wie schwer es ist, von der Straße wegzukommen, zurück in ein Leben zu finden, jenseits von Flaschen sammeln, Zappzarapp und Dosenbier. Eine Begegnung änderte alles im Leben des Pfarrers Anton Weber. Sie machte ihn zu dem, der er heute ist: einem Mann, der mit 75 Jahren noch keine Ruhe gibt. Der umarmt, Hoffnung und Schlafsäcke verteilt. Der hilft, weil er nicht anders kann. Einem Mann, der sehnsüchtig erwartet wird.

Es ist Donnerstag, Frühling, aber immer noch kalt, ein Dutzend Männer und auch ein paar Frauen sitzen am Vormittag im Keller der Gemeinde St. Sebastian im Nordwesten Schwabings, vor einem Raum, den ein Schild als Familienstüberl ausweist. Sie kommen aus dem Osten Europas und leben in München auf der Straße. Sie haben Rucksäcke, Koffer und Tüten dabei, einige unterhalten sich auf Polnisch, lachen. Sie warten auf einen Mann, den manche von ihnen schon seit Jahren kennen.

Groß, mit einem weißen Bart und vollem Haar, kommt er den Flur entlang, Unterlagen und Briefe in der Hand. Anton Weber lächelt, begrüßt die Gruppe. Jedem einzelnen gibt er die Hand, dzień dobry, dobro jutro, servus, griaß di. Eine Frau steht auf, umarmt ihn, sie hat es gerade geschafft, weg von der Straße, zurück ins Leben. Ein zweiter steht auf und umarmt ihn, er schläft noch auf der Straße. Und braucht dringend einen neuen Schlafsack.

Anton Weber, den alle nur Toni Weber nennen, ist jeden Donnerstagvormittag für die Menschen da, für die sonst kaum jemand Zeit hat. Er ist katholischer Priester, eigentlich im Ruhestand, nur dass er nicht ruht. Seit mehr als 30 Jahren reicht er Obdachlosen die Hand, hört ihnen zu, hilft. "Ich will den Menschen ihre Würde zurückgeben", sagt Toni Weber. "Sie merken, der hat Zeit für mich, besucht mich im Krankenhaus, schickt Geld ins Gefängnis. Sie erleben, da ist ein Mensch, der Interesse an ihnen hat, der etwas für sie tut."

Er entschuldigt sich, wenn ein Gespräch länger dauert, wenn sie auf ihn warten müssen. Er schaut ihnen in die Augen, nimmt sie ernst. Er lacht mit ihnen. Und er weiß, was zappzarapp heißt - klauen. Ein gängiger Begriff, auf der Straße werden viele beklaut. Man muss sich das vorstellen: Obdachlosen wird etwas gestohlen.

Auf wen sie warten? "Auf den Papst"

Toni Weber akzeptiert, wenn es mal nichts zu reden gibt. Wenn die Männer und Frauen einfach nur dort sitzen, weil sie wissen, dass sie von ihm einen Fünf-Euro-Schein bekommen, aus den Spenden der Gemeinde.

Einmal war Toni Weber am Donnerstag im Urlaub. Eine Gruppe Männer stand vor der Tür der Pfarrei, bis eine Mitarbeiterin zu ihnen ging und sie fragte, auf wen sie warteten. "Auf den Papst", sagten sie. Toni Weber erzählt die Geschichte mit einem Lächeln. Er meint, Papst Franziskus sei das Gesicht der katholischen Kirche - ein Gesicht, das die Menschen gerne sähen. Deshalb hätten die Männer geantwortet, sie würden auf den Papst warten. Vielleicht ist es aber auch anders: Vielleicht ist ja Toni Weber ihr ganz persönliches Gesicht der katholischen Kirche.

Ein Gesicht, auf dessen Nase eine Brille mit runden Gläsern ruht, das Gestell messingfarben. Ein Gesicht, das Güte ausstrahlt, Wärme. Und Zuversicht. Das allein ist schon ein Wunder. Denn seit mehr als 30 Jahren erlebt Toni Weber, mit welcher Härte das Schicksal bei einigen Menschen zuschlägt. Er erlebt das, weil ein anderer Mann ihn darauf gestoßen hat. Immer wieder spricht Toni Weber von Walter Lorenz, vom Tee-Walter, wie sie ihn auch genannt haben. Einem Mann, der sein Leben der Hilfe von Obdachlosen gewidmet hat und der vor kurzem gestorben ist. "Bei ihm habe ich das von der Pike auf gelernt. Sonst wäre ich nicht auf unsere obdachlosen Mitmenschen aufmerksam geworden", sagt er.

Eine junge Frau aus der Gemeinde kannte Walter Lorenz, der damals Obdachlose bei sich zu Hause aufgenommen hatte. Sie fragte Toni Weber, ob er nicht in der Wohnung von Walter Lorenz einen Gottesdienst feiern könne. So begegneten sich die beiden Männer. Viereinhalb Jahre arbeitete Toni Weber gemeinsam mit Walter Lorenz, als der das Haus in der Pommernstraße aufbaute, in dem noch heute Menschen eine Zuflucht finden, die auf der Straße gelebt haben.

Ein Mittwochnachmittag im März, Toni Weber ist im Westen von München unterwegs. In Obermenzing steht das Haus an der Verdistraße, ein Wohnheim für 60 ehemals obdachlose Männer, Träger ist der Verein Wohnhilfe. Einmal im Monat feiert Toni Weber im Speisesaal im Dachgeschoss des Hauses einen Gottesdienst. Er bringt seine Bibel mit, zündet eine Kerze an und verteilt Zettel mit Liedtexten. "Guat schaust aus", begrüßt er einen Bewohner und drückt ihm die Hand, der gibt das Kompliment zurück.

Nach und nach kommen 15 Männer in den Saal, einer auf Krücken, ein anderer mit einem Rollator. Einige grüßen laut, andere ganz leise. Männer, denen die Jahre auf der Straße Spuren ins Gesicht und in den Körper gefurcht haben. Männer, die mit Toni Weber beten und singen wollen.

Kein anderes Freizeitangebot werde so gut angenommen wie der monatliche Gottesdienst mit Toni Weber, sagt eine Mitarbeiterin. Und dass sie sich im Wohnheim fragen, wer diese Aufgabe übernehmen soll, wenn Toni Weber mal ernst macht mit seinem Ruhestand. Nach dem Gottesdienst gibt es Filterkaffee und Mohnkuchen, jeder Bewohner hat eine Tasse, auf der sein Name steht. Und auch Toni Weber hat eine, in großen roten Buchstaben steht sein Name auf der weißen Tasse.

Er geht von Tisch zu Tisch, setzt sich zu den Rauchern auf den Balkon, spricht mit ihnen, immer wieder hört man ihn laut und fröhlich lachen. Ein Mann mit langen grauen Locken, wachen Augen und einem freundlichen Lächeln umarmt ihn fest zum Abschied, sie kennen sich noch von seiner Zeit auf der Straße.

Nach den Jahren bei Tee-Walter arbeitete Toni Weber bei der Katholischen Männerfürsorge. "Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen. Wenn du das einmal erlebt hast, dann kannst du nicht einfach Tschüss sagen." Toni Weber hat in der Suppenstube Essen serviert, er ist nachts zu den Schlafplätzen gefahren und hat den Obdachlosen Tee, Essen und Kleidung gebracht. Auch mit 75 besucht er Menschen in Altenheimen, hält in der Gemeinde St. Sebastian Gottesdienste. "Ich bin kein Freizeittyp", sagt er. Nach Kaffee und Kuchen im Männerwohnheim packt Toni Weber seine Bibel in einen Stoffbeutel, setzt seine Mütze auf und geht ein paar hundert Meter weiter, zum Haus Bethanien. Hier leben Frauen, die auf der Straße gelebt haben oder ihre Wohnung verloren haben und sich selbst nicht mehr versorgen können. Eine Frau drückt ihm gleich im Flur einen Briefumschlag in die Hand und verschwindet wieder. Eine andere diskutiert mit ihm über eine neue Fußgängerzone. Toni Weber verteilt nebenbei Komplimente - eine Friseurin ist gerade im Haus und schneidet den Bewohnerinnen kostenlos die Haare.

Mit 32 Jahren wurde Toni Weber zum Priester geweiht. Er erzählt von dem Moment in der Münchner Kirche St. Michael, der ihn auf diesen Weg führte. "Ich habe eine Stimme gehört, die sagte: Wie wär's, du könntest Priester werden." Nein, sagt er sich damals, ohne mich. Er steckte zu dieser Zeit mitten im Ingenieurstudium. Ein Jahr später entschied er sich für das Theologiestudium, für die Seelsorge, für das Priesteramt. Hat er es mal bereut? "Na", sagt er entschieden, so wie es nur jemand sagen kann, der Bairisch spricht, mit einem langen "n".

"Haben Sie den Segen dabei?", fragt eine Frau vor dem Gottesdienst im Haus Bethanien. "Wen?" "Den Segen." Ach, den Segen, ja, den hat er dabei. Er gibt der Frau das Büchlein, schlägt die Seite mit dem Segen auf, den er ausgewählt hat. "Den hatten wir schon mal", sagt sie. "Ja, der ist einfach so gut", sagt er und beide lachen. Dann legt er einen lila Schal mit goldenen Streifen über seine Schultern, rechts und links neben ihm sitzen neun Frauen im Halbkreis, eine liest während des Gottesdienstes eine Stelle aus der Bibel vor. Toni Weber schließt die Augen, den Kopf leicht zurückgelehnt sitzt er da und hört einfach nur zu.

Es gibt Momente, da kommt auch Toni Weber an seine Grenzen. Pfarrei St. Sebastian, es ist viertel vor eins an einem Donnerstag, die obdachlosen Männer und Frauen sind gegangen. Er hat mit allen gesprochen, hat Apfelsaft angeboten und Fünf-Euro-Scheine verteilt, für jeden einen. Nun sitzt er im Familienstüberl, zurückgelehnt auf seinem Stuhl, und erzählt. Da geht die Tür auf, ein junger Mann tritt ein, fragt: "Do you speak English? I need registration."

"Wie kann es sein, dass so ein junger Mensch niemanden hat, der ihm hilft?"

Es hat sich herumgesprochen, dass Toni Weber seine Adresse zur Verfügung stellt. Die Briefe, die bei ihm ankommen, bringt er mit zu den Treffen. Er blickt den jungen Mann an, schüttelt den Kopf, sagt: "Ich habe zu viele." Er bedeutet ihm mit beiden Händen, dass die Liste lang ist. Dass kein Platz mehr darauf ist, nicht noch ein Name. Im Moment nicht. Der junge Mann verzieht den Mund, er ist enttäuscht, verschwindet schnell. Toni Weber schüttelt den Kopf. "Wie kann es sein, dass so ein junger Mensch niemanden hat, der ihm hilft?" In diesem Moment sieht Toni Weber so aus, als wüsste er nicht weiter.

Gleicher Ort, eine Woche später. Toni Weber sitzt im Familienstüberl. Der Mann, der gekommen ist, weil er einen neuen Schlafsack braucht, sitzt ihm gegenüber, versunken in seiner dicken Winterjacke. "Du hast ganz rote Hände", sagt Toni Weber. "Hast du viel Frost erfahren?" Der Mann guckt nach unten, er spricht nicht gut Deutsch. "Wir brauchen einen Platz für dich, wo du schlafen kannst." Wie er es sagt, steht zumindest die Möglichkeit im Raum, dass es so einen Platz geben könnte.

Als Toni Weber ein Bub war, da wäre seine Familie selbst fast obdachlos geworden. Vielleicht, sagt er, ist das ja ein Grund, warum er vom göttlichen Geist auf diesen Weg geführt wurde. Das sei ihm aber erst viel später bewusst geworden. Das Weinlokal seines Vaters ging damals pleite, da stand die sechsköpfige Familie in München ohne Geld und ohne Wohnung da. Sie haben dann ein kleines Haus bekommen, ein bisschen außerhalb. Ein Pfarrer hatte der Familie geholfen.

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Quelle:
SZ vom 30.04.2019/smb
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