Ausstellung:"Verschleppt, geflohen, vertrieben"

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Hunderte Akten, Tausende Dokumente schlummern in den Stahlschränken im Keller der Tolstoi-Bibliothek. (Foto: Stephan Rumpf)

Eine Ausstellung in der Tolstoi-Bibliothek erzählt von dem Schicksal der Russen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in München gestrandet waren - und lange vergessen wurden.

Von Jakob Wetzel

Sie habe ihr ganzes Leben lang eine Lücke in sich gespürt, aber jetzt sei diese endlich geschlossen, sagt Tatjana Erschow. Die Leiterin der Tolstoi-Bibliothek ist Tochter einer Münchnerin und eines Russen, doch diese russische Seite sei ihr immer fremd gewesen, sagt sie. Ihr Vater Konstantin habe nie über seine Vergangenheit gesprochen, weder über das, was ihm im Krieg widerfahren sei, noch über die Zeit danach. Vergangenes Jahr aber sei er gestorben. Und in seinen Hinterlassenschaften habe sie etwas gefunden, was sie noch nie gesehen hatte: seinen Ausweis als "Displaced Person" (DP).

Konstantin Erschows Ausweis liegt jetzt in einer Vitrine in der Tolstoi-Bibliothek an der Thierschstraße; er ist Teil einer kleinen Studio-Ausstellung über das Schicksal russischer DPs in München, die von diesem Dienstag an bis Ende Februar zu sehen ist. Die Ausstellung mit dem Titel "Verschleppt, geflohen, vertrieben" sei ihr auch ein persönliches Anliegen, sagt Tatjana Erschow. "Endlich kann das alles ausgesprochen und gezeigt werden."

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Ihre Bibliothek erinnert damit an die, die nach 1945 in München gestrandet sind. Die wenigsten dieser Menschen waren freiwillig hier; die meisten waren Zwangsarbeiter gewesen. Europaweit 13 Millionen Menschen hatten die Nationalsozialisten aus ihrer Heimat verschleppt und sie zur Arbeit für die deutsche Kriegsindustrie gezwungen; alleine in München waren mehr als 150 000 Zwangsarbeiter in Lagern eingesperrt gewesen, viele von ihnen aus der Sowjetunion. Nach dem Krieg sollten diese in die Heimat zurück. Eine Minderheit von ihnen lehnte eine Rückkehr jedoch kategorisch ab, sagt Vitalij Fastovskij, der Kurator der Ausstellung. Manche fürchteten demnach Haft, weil sie mit der Wehrmacht kollaboriert hatten. Andere hatten zuvor bereits unter der Sowjetherrschaft gelitten. Viele emigrierten deshalb in die USA. Doch wer nicht reisen konnte oder eine Perspektive in Deutschland sah, blieb. So lebten nach 1946 noch etwa 100 000 DPs aus der Sowjetunion in Westdeutschland.

Die Ausstellung nimmt deren Alltag in den Blick, das politische und kulturelle Leben, aber auch die Rolle der "Tolstoy Foundation" und damit ein Stück weit die des eigenen Hauses. Diese Stiftung hatte Leo Tolstois jüngste Tochter Alexandra im Jahr 1939 nach ihrer Flucht in die USA ins Leben gerufen, um anderen Emigranten zu helfen. Die Stiftung kooperierte dabei unter anderem mit der CIA. Ihre Europa-Zentrale befand sich ab 1947 in München, und die Tolstoi-Bibliothek, 1949 von Emigranten gegründet, wurde zu Beginn von jener Stiftung getragen. In der Ausstellung ist unter anderem eine Ledertasche des US Refugee Programs zu sehen, die die "Tolstoy Foundation" an politische Flüchtlinge verteilte. Die Taschen enthielten Seife und Rasierer, Kamm, Zahnbürste und Zahnpasta.

Heute betreibe die Stiftung in den USA nur noch ein Altenheim, sagt Vitalij Fastovkij. Die Münchner Bibliothek dagegen wirke als Begegnungsstätte weiter. Sie ist politisch und religiös unabhängig, leistet Sozialarbeit für Zuwanderer, und mit mehr als 45 000 Bänden ist sie nach eigenen Angaben die größte nicht-staatliche russischsprachige Bibliothek in Westeuropa.

Ein Stück Heimat in der Bibliothek

In ihrem Bestand finden sich unter anderem Bücher, die in DP-Lagern gedruckt wurden; einzelne von diesen stellt sie nun aus, darunter Kinderbücher, aber auch ein Pamphlet von 1957, dessen Autor sich gegen die erzwungene Rückkehr der DPs in die Sowjetunion stemmt. Daneben ist zu sehen, was Fastovskij in den stählernen Aktenschränken der Stiftung gefunden hat, die heute im Keller der Bibliothek stehen. Die Stiftung sammelte hier die Unterlagen, mit denen sich Emigranten um Unterstützung bewarben. Das sei ein einzigartiger Quellenschatz, sagt Fastovskij. Denn das Verfahren war nicht formalisiert; die Bewerber sandten ein, was sie für hilfreich hielten. So finden sich dort alte Briefe und Fotografien ebenso wie autobiografische Erzählungen. Fastovskij selbst hat in den Hunderten Akten auch Dokumente über seinen eigenen Großvater gefunden.

Die Ausstellung greift exemplarisch einzelne dieser Flüchtlingsgeschichten auf. Viel Platz ist nicht; sie erstreckt sich über lediglich einen Raum und besteht aus zwei Vitrinen und zehn Wandtafeln. Nachzulesen aber ist zum Beispiel die Geschichte von Alexander Beljaew, einem politischen Flüchtling, dessen Spur sich 1957 in München verliert. Der Mann wurde von Unbekannten entführt, die sich als Kriminalpolizisten ausgaben, seither fehlt von ihm jede Spur. Dokumentiert ist auch die Geschichte der Familie eines früheren zaristischen Gendarmen, der 1910 Josef Stalin verhaftet hatte und deshalb nach der Russischen Oktoberrevolution nach Deutschland floh. Den Nazis entkam er nach Prag, später aber geriet er in sowjetische Lagerhaft. Seine Tochter und seine Frau lebten in einem DP-Lager in München, wurden hier jedoch der Spionage für den Osten bezichtigt und vor die Tür gesetzt. Beide unternahmen einen Suizidversuch; die Mutter starb, die Tochter überlebte.

Eröffnet hat die Ausstellung am Freitagabend Münchens Kulturreferent Hans-Georg Küppers. Die Bibliothek gebe den Menschen ein Stück Heimat zurück, sagte er. Und die Ausstellung mache die DPs, die selbst in der Geschichtswissenschaft lange vergessen waren, endlich zu einem Teil der Münchner Erinnerungskultur. "München kann diese Ausstellung gebrauchen", sagte Küppers. Die Stadt müsse an die Untaten der Nazis und an deren Folgen erinnern. Andernfalls werde die Gesellschaft "den rechtspopulistischen Umtrieben, die Europa durchziehen, nicht widerstehen."

Die Ausstellung "Verschleppt, geflohen, vertrieben" ist bis 28. Februar immer Dienstag und Donnerstag von 13 bis 19 Uhr sowie Freitags von 13 bis 18 Uhr in der Tolstoi-Bibliothek an der Thierschstraße 11 zu besichtigen. Der Eintritt ist frei.

© SZ vom 23.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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