Das neue Tollwood-Motto ist eigentlich ein altes: „Leit hoit’s zam, sonst dauert's nimma recht lang“, hat Hans Jürgen Buchner von Haindling schon vor 30 Jahren gefordert, und so wird es der bayerische Weltmusik-Pionier auch auf seiner Abschiedstour hier tun. Vor dem von ihm prognostizierten „g’scheiden Scheberer“ will auch das große Münchner Sommer-Festival die Welt bewahren und ruft: „Zusammen:Halt!“ Egozentrik, „rechter Brandstiftung“ und Umweltzerstörung wollen Rita Rottenwallner und ihre Truppe ein „friedliches, fröhliches und unbeschwertes Zusammensein“ entgegensetzen. Dabei wird in der Zeltstadt im Olympiapark Süd gemeinsam gesungen, gebastelt, gestaunt, geschmaust und getrunken. Jeder kann das „Fest des Miteinanders“ auf seine Weise erleben, ob an den Marktständen mit Krimkrams von Nah und Fern, in den politischen Aktionsräumen, im Craft-Biergarten, im Kinderzelt, beim Jugend-Hip-Hop-Kurs, in der Silent-Disco oder bei zahlreichen Konzerten – Hauptsache zusammen.
Der Markt der Ideen ist von Freitag, 21. Juni, bis Sonntag, 21. Juli, montags bis freitags von 14 bis 23.30 Uhr geöffnet, samstags und sonntags von 11 bis 23.30 Uhr, die Gastronomie serviert jeweils bis 1 Uhr. Tickets und Informationen gibt es unter www.tollwood.de oder unter der Telefonnummer 089/3838500.
Ganz Tollwood ein Chor

Das gemeinsame Singen ist zuletzt in Verruf gekommen. Man denke an die Bar in Kampen und weitere von irgendwelchen Deppen gekaperte Feierorte und deren menschenfeindliches Gegröle. Dazu muss man eines sagen: Das nun aus Festzelten verbannte Lied des Anstoßes, „L’amour Toujours“, selbst kann nichts dafür! Es geht darum, mit welcher Haltung gesungen wird, und da will Tollwood in diesem Sommer ein Zeichen setzen, ein sehr großes sogar: „Gemeinsam singen für Frieden und Zusammenhalt“ heißt es an den beiden Eröffnungsabenden, Freitag und Samstag, 21. und 22. Juni. „Alle“ sollen um 22 Uhr in einer gemeinsamen Aktion die Hippie-Hymnen „Let The Sunshine In“ aus dem Musical „Hair“ und „Give Peace A Chance“ von John Lennon anstimmen, und mit „alle“ sind (je nach Wetter) 20000 bis 30000 Gäste pro Abend gemeint.
Jens Junker und Ian Chapman werden dafür sorgen, dass das einigermaßen simultan und anhörbar abläuft. Die beiden haben mit dem Spontan-Chor Go Sing Choir schon viele, viele Menschen gemeinsam zum Singen gebracht (sogar mehrstimmig), wenn auch noch nicht so viele auf einmal. Sie zählen ein, Musik erklingt, wer ihn nicht kennt, singt den Text vom Handy-Display ab – und dazu beginnen die Sterne zu tanzen, denn wie im vorigen Jahr schwirren Leucht-Drohnen in einer Flugshow umher.

Neuer Geschäftsführer, neue Ideen:Zeitenwende in der Tollwood-Zeltstadt
"Mr. Varieté" Werner Buss verstärkt die Festival-Spitze und stellt auch als Künstlerischer Leiter das Programm auf den Kopf: keine Dinner-Shows mehr, dafür eigene Produktionen.
Zum Tollwood-Motto 2024 gibt es noch weitere große Gemeinschaftserlebnisse: Mehrmals werden spontan aus der Menge Musiker sich zu einem Orchester formieren und den „Bolero“ spielen. Ein Rhythmus, zwei Melodien zu je 16 Takten, über die Maurice Ravel selbst gesagt haben soll: „Ich habe ein Meisterwerk erschaffen, leider ohne Musik.“ Dennoch hat dieser Klang-gewordene Liebesakt die Fantasie vieler Hörer und Künstler beflügelt. Dazu singen sollen die Tollwood-Gäste nicht gerade, aber sie können es ja mal mit lustvollem Stöhnen versuchen (25. Juni und 2., 4., 9., 17. Juli 18/19 Uhr, 29. Juni und 13./21. Juli 17/18/19 Uhr).
Die großen Konzerte

Ein Abend war noch frei, für den sicherte sich Tollwood nun einen guten alten Bekannten: Wolfgang Ambros. Der Austro-Pop-Grande aus Waidring hat schon in allen möglichen Konstellationen in der Musikarena gespielt, mit dem „Watzmann“-Musical wie mit den Kollegen Danzer und Fendrich als Austria 3, diesmal am 30. Juni spielt er wieder mit seiner Stammtruppe No. 1 vom Wienerwald seine Hit-Giganten von „Zwickts mi!“ bis „Zentralfriedhof“. Der 72-Jährige bringt mit der bayerischen Liedermacherin Claudia Koreck frischen Wind ins große Zelt, und das ist gut so, denn ansonsten versammelt sich hier eine Parade alter weißer Männer: Schlager-Prophet Dieter Thomas Kuhn (22. Juni), Deutsch-Pop-Pionier Marian Gold von Alphaville samt Orchester (23.6.), die Country-Rocker The Boss Hoss (26.6.), das Herren-Gedeck Schmidbauer & Kälberer samt Ehrengast Hannes Ringlstetter, die Bietigheimer Leisetreter Pur (21.7.) und Hans-Jürgen „Haindling“ Buchner, der bald 80 Jahre alt wird (17.7.).
Auch die internationalen Stargäste sind meist männlich und stehen seit Urzeiten auf den Bühnen der Welt: Toto (24.6.), Nile Rogers mit Chic und Kool & The Gang (5.7.), Status Quo und Canned Heat (8.7.), Nick Mason von Pink Floyd (9.7.) und die Graubärte ZZ Top (14.7.). Dagegen gibt sich das Ü50-Resttrio von Take That noch recht jugendlich (Motto: „Zurück aus den Neunzigern“), sportlich auch die Preise ab 94 Euro, das teuerste, was es je auf Tollwood gab. Es sind nur noch VIP-Tickets für 207 Euro erhältlich, damit kommt man früher rein und näher ran an die Boys.

Wer es jünger will: Es eröffnen Bilderbuch (21.6.), es folgen Clueso (3.7.), Jan Delay (4.7.), Kaffkiez (13.7.), die Deutsch-Rapper Dicht & Ergreifend (28.6.), Montez (10.7.) und Finch (18. & 19.7.) sowie die Indie-Popper Von Wegen Lisbeth und Kytes (20.7.).

Tatsächlich füllen auch ausnahmweise ein paar große Musikerinnen das 6000-Besucher-Zelt: Sarah Connor (25.6.), Nina Chuba (27.6.), am „Frauenpower“-Abend Lena und Leony (29.6.), Beth Hart (1.7.) und Loreena McKennitt (16.7.).
17 Konzerte sind schon ausverkauft, für vier gibt es nur noch Restkarten. Den aktuellen Stand findet man auf www.tollwood.de/veranstaltungsort/musik-arena/.
Artistik und Straßentheater

Läuft auf irgendeinem Festival ein Stelzen-Clown umher, sagt sicher jemand: Das ist ja wie auf dem Tollwood hier! Aber bei Straßentheater, Artistik und Walk-Acts ist das Münchner Spektakulum unerreicht, eine Marke für sich. Im Amphitheater zeigen in diesem Sommer elf Gruppen aus Europa Akrobatik mit Extradreh. Common Ground bauen menschliche Pyramiden mithilfe von großen und kleinen Holzquadern (21.–23.6.), La Trocola Circ verwendet Blumentöpfe und Wannen (4.–6.7.), das Clownduo Leandre in „Fly Me To the Moon“ ein Tandem (27.–30.6.), 15Feet6 aus den Niederlanden Stabhochsprungstäbe und Klebeband (18.–21.7.), Circumstances eine Drehwand und Schwebetüren (7.7.) und die TeaTime Company eine riesige Metallspirale (1.–3.7.).

Zwischen den Buden können die Besucher auch immer auf umherziehende Guerilla-Artisten treffen, zufällig oder gezielt, wenn man weiß wann: Cie Paris Benares, die 2023 mit einem Riesenpferd da waren, reiten nun auf gigantischen indischen Kühen umher (3.–7.7.), das Scharniertheater kommt mit den Riesenköpfen Gianno und Nannini und ihrem Hündchen Pino (17.–21.7.), und bei der Compagnie with Balls lässt der gigantische Puppenmann Pablo eine Ballerina auf einer Kugel tanzen (10.–14.7.).
Die Bier-Revolution
Erstmals: Tollwood ist ein Familienfestival, deswegen darf auf dem Gelände nicht gekifft werden. Das heißt aber nicht, dass, wer mag, auf ein gepflegtes Delirium verzichten muss. Das Rauschmittel der Wahl ist Bier. Und das, obwohl die Festivalleitung heuer auf die bewährte Großbrauerei als Hauptsponsor verzichtet. Dafür beliefern 16 kleinere Brauereien Tollwood mit ihren Bieren, womit das Festival seinem Spitznamen als „alternatives Oktoberfest“ alle Ehre macht. In den Zelten und Bars wird Traditionshelles von Andechser, Ayinger und Hofbräu ebenso ausgeschenkt wie kreative Sorten von Crew Republic, Isarkindl, Tilmans oder Knärzje, die mit Bier aus Brotresten gegen die Lebensmittelverschwendung angehen.
In dieser Bierschwemme sehen die Macher des Festes freilich kein Massenbesäufnis, sondern „Bierkultur“ und zitieren Nietzsche: „Gemeinsam ein Bier zu trinken, ist die ehrlichste Form der Kommunikation.“ Dazu gibt es das passende Programm: eine Zeitreise mit Virtual-Reality-Brille ins Gründungsjahr des Klosters Andechs, Bier-Yoga, ein Pub-Quiz (donnerstags 19, 20.15 und 21.30 Uhr) und Frühschoppen mit dem Trachtenverein Alpenrösl (23.6.) oder dem Trio Montparnasse und Show-Pfarrer Rainer Maria Schießler (22.6.) in der neuen Brasserie (wo früher die Fassbar war). Hier bekommt der Gast französische Lebensart und Kulinarik geboten, aber auch wechselnde Brau-Jungsstars wie Bio-Bier von Härle oder Pils von Bierschnauzer.

Wo früher das Hacker-Brettl stand, bietet nun der Craft-Biergarten Wüda Hund auch (moderne) Wirtshauskultur satt. Abends Gstanzl und Bairisches vom Mundart-Kabarett Bumillos (10.7.) über den Zither Manä (12.7.) bis zum Heimat-Rap von Liquid & Maniac (17.7.). Und sonntags stark besetzte Frühschoppen etwa mit Maxi „Kofelgschroa“ Pongratz (23.6.) oder der Dreieckmusi (14.7.).
Das zweitgrößte Zelt wird zwar noch von derselben Brauerei, Andechser, beliefert, dafür haben hier heuer die Wirte gewechselt. Reichlich Erfahrung haben Niko Strnad und Klaus Dalheimer allerdings schon mit der Fassbar und im Winter mit dem Hexenkessel gemacht. Und als eine von Münchens umtriebigsten Rock- und Blues-Veranstalterinnen stellt Strnad natürlich auch für die zwei Bühnen im blauen Zelt (mit vergrößerter Tanzfläche) mehrere Gratis-Konzerte täglich auf die Beine. Von Ska mit den Beanuts (21.6.) über Bluesrock mit Nick Woodland (7.7.) bis zu Folk-Pop von The Magic Mumble Jumble (14.7.) und Voodoo-Rock mit Dr. Will (16.7.). Dem gerade gestorbenen Münchner-Gitarren-Meister Marc Dorendorf wollen seine Freunde am Tag seines geplanten Konzertes mit einem Allstar-Abend die letzte Ehre erweisen (2.7.).
Kunst am Platz

Es ist keine Kunst, auf dem Tollwood-Festival Kunst zu entdecken: Sie ist quasi überall. Schon am Haupteingang am Spiridon-Louis-Ring werden die Besucher von einem monumentalen Werk empfangen: Andrey von Schlippe hat einen „KippPunkt“ erschaffen, eine Holzkonstruktion, die an eine umgedrehte Leonardo-Brücke oder einen Schiffsrumpf erinnert. Die Gäste können sie betreten und sollen darin gemeinsam die Balance halten.
Schlippe, der Kunst-Leiter des Festivals, hat quasi ein ganzes Open-Air-Museum zum Motto „Zusammen:Halt!“ konzipiert: Jeden Abend, an dem es nicht stürmt, wird man sich wieder unter einem künstlichen Mond über dem Andechser Hügel versammeln, 500000 Mal kleiner als das Original, aber immer noch beeindruckend. Es gibt Sandskulpturen-Kunst bei der Half-Moon-Bar, die Holzskulpturen von Mukai Katsumi, Adam Stubleys Wort-Blöcke und ein asiatisches Bambus-Tor von Ludwig Frank.
Im Kunstraum dürfen die Besucher selber kreativ werden – für sich, gemeinsam und für andere: In einer Schreibwerkstatt können sie Gedanken, Gefühle und Gedichte schreiben und gestalterisch umsetzen. Auf drei stilisierten Bäumen können die Gäste ihre Werte, quasi die Wurzeln der Gesellschaft, ausdrücken. Und sie können kleine Figuren basteln und auf den Ebenen einer Erdkugelskulptur (sieht ein bisschen wie ein Spielzeug-Parkhaus aus) aufstellen.