Süddeutsche Zeitung

30 Jahre Tollwood:Wie aus ein paar Biertischen ein großes Festival wurde

Wiener Würstchen als Catering und ein windschiefes Zelt: So begann vor 30 Jahren die Erfolgsgeschichte des Tollwoods im Olympiapark.

Von Franz Kotteder

"Der Billy Idol spielt auf Tollwood", sagt der Kollege nebenan gerade bass erstaunt, "ich wusste gar nicht, dass der überhaupt noch lebt!" Ja, das sind Reaktionen, wie man sie dieser Tage öfter mal hören kann. Nun sind 30 Jahre eigentlich noch kein besonders hohes Alter.

Für ein Kulturfestival aber irgendwie doch, und besonders dann, wenn es sich um ein Festival handelt, das so ein bisschen die Jugendkultur abdeckt. Oder zumindest abdeckte. Denn heute geht man ja auf Tollwood meist zusammen mit anderen grauhaarigen Herren und Damen zu den Konzerten von grauhaarigen Musikern und freut sich, dass man trotzdem noch irgendwie jung geblieben zu sein scheint. Also mental wenigstens.

Damals, als alles anfing, war man selbst echt noch jung und erfuhr das erste Mal von Tollwood durch ein Plakat in der Nähe vom Arri, gegenüber der Kunstakademie. Tollwood, na ja, der Name ging so und war eher so halblustig. Aber kulturelle Reizüberflutung war 1988 noch nicht das Problem in München, und so schaute man halt mal rüber in den Olympiapark. Bekannte meinten, es wäre wohl der gleiche Ort, wo im Jahr zuvor das internationale Theaterfestival stattgefunden habe.

Gut so, denn sonst hätte man das allererste Tollwood-Festival vielleicht gar nicht gefunden. Es gab eine Bühne, einige Biertische und ein Gastrozelt, in das bei Regen vielleicht 200 Leute passten. Der Musikkabarettist Georg Ringsgwandl hat später einmal sehr schön beschrieben, wie alles anfing: "Es gab keine Verträge, nur eine dünne Verstärkeranlage und Strom aus verlängerten Verlängerungskabeln, die sicher nie einen Elektriker gesehen hatten. Das Catering bestand aus Wienerwürstel mit Brot, wobei auch das nicht gesagt war."

Herr über dieses Fantasiereich war Uwe Kleinschmidt, Mitbetreiber der legendären Kabarettkneipe MUH, was für "Musikalisches Unterholz" stand, ein großartiger Kleinkunstenthusiast und liebenswerter Chaot. Wegen eines Offenbarungseids, so erinnert sich Hans Well von der Biermösl Blosn, konnte Kleinschmidt nicht selbst als Chef des Ganzen firmieren.

Dafür hatte er Rita Rottenwallner, eine Studentin, die von einem Bauernhof aus dem Niederbayerischen kam und ihm im MUH mit der praktischen Unaufgeregtheit und dem Realitäts- und Eigensinn, der typisch ist für ihren Volksstamm, unter die Arme griff. Kleinschmidt zog sich krankheitsbedingt bald zurück. Neun Jahre später ist er gestorben, die Rita aber hat sein Erbe so vorbildlich fortgeführt, wie er es sich nur wünschen konnte.

Ja, die Rita Rottenwallner. Sie ist so etwas wie das Phantom des Zeltfestivals, manche glauben gar nicht, dass es sie in echt gibt. Wenn es um öffentliche Auftritte geht, wird sie sofort unsichtbar. Es wird eine Qual für sie gewesen sein, als sie 2010 das Bundesverdienstkreuz entgegennehmen musste. Wer allerdings glaubt, die scheue Rita ließe sich locker über den Tisch ziehen, hat sich sauber getäuscht.

Sie kann nämlich auch ausgesprochen resolut sein. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann macht sie das auch. Wahrscheinlich schafft man es nur so, ein Festival wie dieses aus kleinsten Sponti-Anfängen liebevoll großzuziehen und sich dabei nicht beirren zu lassen. Weder von den Vorwürfen, man sei viel zu kommerziell geworden, noch von den Einwänden, dies und jenes sei ja wohl finanzieller Selbstmord oder lediglich Ausdruck einer verblasenen Öko-Ideologie.

Tatsächlich ist das Festival schnell gewachsen. Statt eines improvisierten, leicht windschiefen Zeltes, gefertigt aus Fichtenstämmen und Planen, gab es bald fünf, es kamen die Marktstände hinzu und wurden immer mehr. Bald schon kam das Wort vom "Alternativen Oktoberfest" auf, und zum ständigen Tollwood-Sprech gehörte der Satz: "Früher war's viel schöner, als es noch nicht so kommerziell war." Heute sind diese Sprüche fast verstummt, weil sich kaum noch jemand dran erinnern kann, wie es am Anfang, vor 30 Jahren, tatsächlich gewesen ist und Tollwood schon seit vielen Jahren so groß ist wie heute.

Genauso wenig, wie die Tollwoodianer darauf hörten, man dürfe Kultur nur im Armenrecht veranstalten und Selbstausbeutung sei das Gleiche wie Glaubwürdigkeit, ließen sie sich beirren, was die ökologische Ausrichtung anging. Da gab es keine Kompromisse: Wer auf Tollwood verkaufen will, muss bis heute die Öko-Zertifizierung nachweisen, und Tollwood unterstützt nach wie vor Bio-Essen für Kindergärten und Schulen sowie das Bündnis "Artgerechtes München" sowie eine Reihe weiterer Organisationen und Initiativen.

Und dann natürlich, die Kultur. Aus der Kleinkunst ist bald sehr viel größere Kunst geworden. Robert Wilson inszenierte 1997 die Oper "Persephone" im Olympiasee, in der Olympiahalle gastierte fünf Tage lang eine argentinische Aktionstheatergruppe. Im Jahr zuvor hatte sich Rottenwallner eingebildet, zehn Zirkusgruppen aus der ganzen Welt nach München zu holen und in verschiedenen Zelten auftreten zu lassen.

Dieses erste große deutsche Treffen des "Nouveau Cirque" war finanziell gesehen gewiss ein schwarzes Loch und von einem ähnlichen Wagemut beseelt wie die Aktivitäten der Bayerischen Landesbank in Sachen Hypo Alpe Adria zehn Jahre später, nur wesentlich unterhaltsamer. So ein Festival im Festival war es einfach mal wert.

Man wird also auch in diesem Jahr wieder über das Gelände schlendern, wird nachzählen, wie viele Turnschuhe man schon entsorgt hat, weil sie nach drei Tagen Tollwood-Regen halt dauerhaft müffelten wie ein nasser ungarischer Hirtenhund, der sich jahrelang erfolgreich gegen eine Behandlung mit Hundeshampoo gewehrt hat.

Man wird sich erinnern an südamerikanischen Ökokitsch und allerlei esoterisches Klimbim, das an den Ständen sommers wie winters - ja, selbstverständlich gibt es seit den Neunzigerjahren auch ein Winter-Tollwood! - verkauft wird von Menschen, die in unbeobachteten Momenten womöglich auch heute noch lila Latzhosen tragen. Und klar, da sind auch die vielen Konzerte von Manfred Mann über Bob Dylan bis hin zu Alice Cooper (in diesem Jahr). Da dürfen wir ältere Herren uns wieder jung fühlen. Falls wir morgens unsere Betablocker und Cholesterinhemmer brav eingenommen haben, versteht sich.

Die ganze Bandbreite

Mit 30 Jahren hat man in der Regel schon einige musikalische Phasen durchlebt, und da ist es nur logisch, dass das Tollwood-Festival zu seinem Jubiläum ein Programm bietet, das ganz viele unterschiedliche Musikrichtungen bedient. Da liefern sich zum Beispiel an einem Abend Savas & Sido ein Rap-Battle, nachdem am Vorabend Altmeister Billy Idol auf der Bühne stand, einen Abend darauf tanzt das Publikum zu einer wilden Mischung aus Ska, Funk und Latin von The Cat Empire und Babylon Circus. Als fulminanter Auftakt des Festivals, das von 27. Juni bis 22. Juli auf dem Gelände im Olympiapark stattfindet, werden am ersten Wochenende (Samstag und Sonntag, 22 Uhr) die katalanischen Bühnenkünstler La Fura dels Baus zu sehen sein, die auf der Bühne im Olympiasee Carl Orffs Meisterwerk "Carmina Burana" zum Besten geben werden. Der Eintritt ist frei, die Auftritte sollen ein "Jubiläumsgeschenk" für die Münchner sein. salm

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SZ vom 26.06.2018/amm
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