Ticker zum Wahlsonntag:Ein spannender Abend

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Dieter Reiter zieht seine Enkel der SPD-Wahlparty vor, die FDP feiert ihr Ergebnis im Hofbräukeller, die Linke sucht nach Erklärungen für das eher maue Abschneiden. Bei den Grünen geben sich die Direktkandidaten hoffnungsvoll - doch die Rennen in den Wahlkreisen sind knapp

Von T. Anlauf, I. Bernstein,P. Crone, H. Effern, L. Freymark, A. Hoben, F. Kotteder und S. Krass

Ein enger Kampf um die Direktmandate in den vier Münchner Wahlkreisen, eine Wahlbeteiligung, die schon kurz nach Öffnung der Wahllokale die 50-Prozent-Hürde übersteigt, und ein Oberbürgermeister, der am Wahlabend Besseres zu tun hat, als mit seiner Partei zu feiern. Der Münchner Wahlsonntag im Überblick:

8.30 Uhr: Die 463 Wahllokale sind seit acht Uhr geöffnet - und bereits mehr als die Hälfte der wahlberechtigten Münchnerinnen und Münchner hat ihre Stimme abgegeben. Um 8.30 Uhr liegt die Wahlbeteiligung bereits bei 50,4 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2017 wurde die 50-Prozent-Marke erst nach zwölf Uhr erreicht.

9.50 Uhr: Dieter Reiter ist bei der Gedenkfeier zum 41. Jahrestag des Oktoberfest-Attentats entspannt, was die Wahl angeht. "Ich gehe wahrscheinlich nicht zur Wahlparty", sagt der Münchner Oberbürgermeister. "Ich hab Besuch von meinen Enkeln."

17.23 Uhr: 37 Tische mit insgesamt 74 Sonnenblumen und 74 Windrädern darauf stehen in der Muffathalle für die Wahlparty der Münchner Grünen bereit. Während Gäste sich selbst auf den aufgeklebten Namenszetteln an den Tischen suchen, spricht die Münchner Grünen-Chefin Ursula Harper durch ihre, selbstverständlich, grüne Maske: "Ich bin nervös, aber optimistisch. Diese Wahl ist einfach für uns alle in Deutschland extrem wichtig."

Ein paar Grüne fühlen sich angesichts der guten Ergebnisse offenbar so, als seien ihnen Flügel gewachsen. Oder zumindest kleine Windräder. (Foto: Catherina Hess)

17.35 Uhr: Geht ja schon gut los, bei der Bayern-SPD: Das erste Stück aus den Lautsprechern ist "Another one bites the dust". Doch Franz Maget, ehemaliger Landeschef der Bayern-SPD, zeigt sich optimistisch und mit dem Versammlungssaal sehr zufrieden: "Der Nockherberg ist immer für ein hochprozentiges Ergebnis gut!"

17.55 Uhr: Die Zweite Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne) kommt in die Muffathalle. Sie sagt: "Im Verlauf des Sommers war die Entwicklung der Umfragen ja nicht so, dass sie uns gefreut hätten. Da bin ich erst recht stolz auf die Münchner Grünen, dass wir bis gestern Abend den Wahlkampf mit vollem Einsatz durchgezogen haben." Katrin Habenschaden verschwindet dann zügig hinter dem Vorhang des Backstage-Bereichs, während sich der Sound in der Halle langsam verändert. Die Hintergrundmusik wird lauter, ebenso das Klirren von Gläsern beim Anstoßen. Noch ist auf der Leinwand hinter der Bühne aber nur eine sich langsam drehende Sonnenblume auf grünem Grund zu sehen.

18.00 Uhr: Riesenfreude bei der FDP im Hofbräukeller: Die Partei erreicht laut Prognose im ZDF zwölf Prozent. Auch die Grünen in der Muffathalle jubeln bei der ersten Prognose, vor allem über die Zugewinne im Bund (14,5 Prozent/+5,6 Prozent) und in Bayern (14 Prozent/+4,2).

Da kann man auch mal Danke sagen, denken sich diese FDP-Anhänger im Hofbräukeller. Mit Schildern – dann muss man nicht so laut brüllen. (Foto: Friedrich Bungert)

18.15 Uhr: Die ZDF-Prognose kommt auf dem Nockherberg natürlich am besten an, mit zwei Prozent Vorsprung für die Sozialdemokraten. Die Kandidatin für München-West, Seija Knorr-Köning, sagt: "Dass die CDU Laschet aufgestellt hat, war sicher gut für uns." Und die Parole der Grünen "Bereit, weil Ihr es seid" sei offenbar anmaßend gewesen. Die SPD-Stadtvorsitzende und Kandidatin im Münchner Osten, Claudia Tausend, ist noch vorsichtig: "Da kann sich noch einiges ändern, die Prognosen sind ja alles andere als eindeutig." Sie hält es gewissermaßen mit Edmund Stoiber in der Wahlnacht 2002 und macht noch kein Glas Champagner auf.

18.25 Uhr: Die Direktkandidatin der Linken für den Münchner Westen, Nicole Gohlke, hat ein ernstes Gesicht: "Ich habe in den letzten vier Monaten im Wahlkampf eine hohe Akzeptanz erlebt, auch in den Ecken, wo es besonders schwierig ist für uns Linke. Aber die hohe Akzeptanz führt vielleicht nicht dazu, dass die Leute uns auch wählen."

18.27 Uhr: Die Grünen-Landesvorsitzende Eva Lettenbauer ergreift das Mikrofon, die Blicke der Grünen-Anhänger in der Muffathalle lösen sich vom Bildschirm. Lettenbauer heizt die Stimmung an mit dem Satz: "Wir haben das beste Ergebnis in unserer 40-jährigen Geschichte erreicht." Klar sei aber auch, dass man sich mehr erwartet habe. Und trotzdem: "Wir haben einen klaren Auftrag bekommen, bei der nächsten Regierung mitzumischen."

18.45 Uhr: Bei der Linken auf der Schwanthalerhöhe gibt sich Kerem Schamberger, Direktkandidat für den Münchner Süden, kämpferisch - auch wenn das Wahlergebnis für die Partei gerade nicht gut aussieht. "Wir werden aus einer Niederlage gestärkt hervorgehen und weitermachen", sagt der 34-jährige Kommunikationswissenschaftler, der es mit Platz zwölf auf der Landesliste womöglich nicht schafft, in den Bundestag zu kommen.

19.12 Uhr: Jubel bei den Grünen am Stehtisch neben der Theke: "Doris liegt vorne!", ruft eine junge Frau. Sie meint Doris Wagner, die Direktkandidatin im Wahlkreis München-Nord. Doch wer in den Wahlkreisen vorne liegt, wird sich an diesem Abend noch einige Male ändern.

19.23 Uhr: Bei der Linken versucht der Bundestagsabgeordnete Klaus Ernst, das Wahlkampfteam zu trösten. "An euch lag's nicht", ruft er den etwa hundert Menschen zu. Man müsse nun die Fehler analysieren und korrigieren. Die Linke habe vielleicht zu viele Schwerpunkte gesetzt. Man brauche einen Schwerpunkt und der sei die soziale Gerechtigkeit. Trotzdem rief er die Genossinnen und Genossen auf, den Abend zu feiern. "Es kann ois noch besser werden", ruft der Münchner, der in Schweinfurt als Direktkandidat angetreten ist.

19.41 Uhr: 227 von 926 Gebieten in München sind ausgezählt. Bliebe es so, würden die Grünen im Westen und Süden erstmals Direktmandate gewinnen. Der CSU blieben derzeit noch die Mandate im Norden und Osten. Aber der Abend ist noch lang.

Nie haben so viele Münchnerinnen und Münchner per Brief gewählt. Die Stimmen sortieren die Helfer erst einmal am Boden. (Foto: Alessandra Schellnegger)

19.59 Uhr: Margarete Bause wird auf der Bühne begrüßt und so richtig bejubelt: Die ehemalige Fraktionsvorsitzende im Landtag liefert einen einwandfreien Auftritt, dankt, motiviert, ruft in den Saal: "Grün wächst weiterhin!" Kein Wort zu ihrer schwierigen persönlichen Ausgangsposition bei dieser Wahl. Sie wurde nur auf Listenplatz 22 aufgestellt, was bei dem Ergebnis der Grünen eher nicht reicht. Dafür, dass es also vielleicht ihr letzter großer Auftritt ist, sollte es nicht mit dem Einzug in den Bundestag klappen, meistert sie den Moment souverän.

20.13 Uhr: Die Sozialdemokraten jubeln, als in der Tagesschau die aktuelle Hochrechnung verkündet wird. Kurz zuvor war hier noch gesungen worden: "Hey, das geht ab, wir feiern die ganze Nacht" von Die Atzen.

20.20 Uhr: Es bleibt knapp: Die Grünen liegen bei den Direktmandaten in München-West und München-Süd vorne, aber nur 0,6 beziehungsweise 0,1 Prozentpunkte vor der CSU. In München-Nord ist es ein Dreikampf zwischen CSU, SPD und Grüne, in München-Ost scheint Wolfgang Stefinger guter Chancen zu haben, das Direktmandat wieder zu gewinnen.

20.23 Uhr: Bei der Linken lichten sich schon um kurz nach 20 Uhr etwas die Reihen. Kein Wunder, bislang ist gar nicht klar, ob die Partei in den Bundestag einzieht. Den Direktkandidaten Christian Schwarzenberger (Nord) und Julian Zieglmaier (München Ost) ist ohnehin klar, dass es für sie nichts zu gewinnen gibt. Sie stehen nicht auf der Landesliste der Linken und haben ausschließlich direkt kandidiert.

20.31 Uhr: Bei den Liberalen herrscht weiterhin Zufriedenheit, auch wenn es nach der ersten Hochrechnung noch einmal leicht nach unten ging. "Es war wichtig, dass es kein Rot-Rot-Grün geben wird", sagt Jörg Hoffmann, Vorsitzender der gemeinsamen Fraktion von FDP und Bayernpartei im Münchner Stadtrat. Den Fokus wollen die Münchner Bundestagsabgeordneten vor allem auf die Themen Bauen, Wohnen und Klima legen und sich dabei von den Grünen abheben. "Es geht dabei nicht nur um Verbote", sagt Jörg Hoffmann. Die leichten Verluste, die sich derzeit in München abzeichnen, sieht der FDP-Politiker nicht dramatisch. Das Ergebnis in der Landeshauptstadt sei "ungefähr das, was wir bundesweit bekommen haben".

20.37 Uhr: Der CSU-Bezirksvorsitzende Georg Eisenreich und sein Stellvertreter Josef Schmid verfolgen den Wahlabend nun im Kreisverwaltungsreferat (KVR). Zum aktuellen Stand in München wollen sie erst noch nicht viel sagen, aber dann lassen sich die zwei Landtagsabgeordneten doch noch zu einer Einschätzung hinreißen. "Der Westen zählt immer erst am Schluss die Wahllokale aus, in denen die CSU stark ist", sagt Schmid. Eisenreich pflichtet ihm bei: Bei einer Landtagswahl habe er im Süden nach etwa drei Viertel der Wahllokale hinter dem SPD-Kandidaten gelegen und dann doch noch gewonnen. Die Entwicklung der Auszählung gibt ihm recht: Während er spricht, ist das Ergebnis im Süden in Richtung von Michael Kuffer (CSU) gekippt. Kurz darauf aber liegt Jamila Schäfer (Grüne) schon wieder vorn.

In München verliert die CSU spürbar an Stimmen? Egal – es wird trotzdem geklatscht, was die Hände hergeben. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

20.47 Uhr: Die Reihen auf der Grünen-Wahlparty lichten sich deutlich. Dabei gibt es aus Münchner Sicht durchaus schon Grund zum Feiern, wie der Stadtvorsitzender Joel Keilhauer in die Menge ruft. "Wir erreichen heute das beste Ergebnis, das die Grünen in München bei einer Bundestagswahl je erzielt haben", betont er. Bei mehr als der Hälfte ausgezählter Zweitstimmen liegen die Grünen bei knapp 26 Prozent und damit im Parteienwettstreit sogar in Führung, knapp vor CSU und SPD.

20.50 Uhr: Im Wahlkreis München West/Mitte läuft ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Stephan Pilsinger (CSU) und Dieter Janecek (Grüne). Mehr als die Hälfte der Wahllokale ist ausgezählt, und die 27-jährige Direktkandidatin Seija Knorr-Köning (SPD) liegt abgeschlagen auf dem dritten Platz, über die Landesliste ist sie nicht abgesichert.

21.00 Uhr: Wolfgang Stefinger (CSU) ist in seinem Wahlkreis München-Ost schon seit Längerem auf der sicheren Seite, er liegt rund zehn Prozentpunkte vor der Zweitplatzierten Vaniessa Rashid (Grüne). Claudia Tausend (SPD) sieht ihre Niederlage in dem Stimmkreis gelassen: "Den Wahlkreis haben wir, glaube ich, zuletzt in den Siebzigerjahren gewonnen." Insgesamt sei es natürlich enttäuschend, "dass es wahrscheinlich nicht für ein Direktmandat in der Stadt reicht".

21.24 Uhr: FDP-Bundestagsabgeordneter Lukas Köhler freut sich, dass er auch im kommenden Bundestag vertreten sein wird. "Wir haben eine sehr gute Kampagne geführt", sagt der 35-jährige Münchner. "Das, was wir als Angebot hatten, hat die Wählerinnen und Wähler überzeugt." Auch der neben Thomas Sattelberger dritte Münchner Bundestagsabgeordnete Daniel Föst meldet sich an dem Abend zu Wort: "Wir können mit unseren Münchner Kandidaten Themen wie Bauen und Wohnen in den Bundestag einbringen. Das sind Themen, die in München am dringendsten sind, also hilft das München als Erstes."

20.37 Uhr: 212 von 216 Gebieten sind ausgezählt, und jetzt ist klar: Jamila Schäfer gewinnt das erste grüne Direktmandat in Bayern. Mit 27,5 Prozent liegt sie kurz vor dem Ende der Auszählung vor CSU-Bundestagsabgeordneten Michael Kuffer. Und noch eins ist nun Gewissheit: Florian Post (SPD) hat keine Chancen mehr, das Direktkandidaten in München-Nord zu gewinnen. Mit knapp 22 Prozent liegt er fast vier Prozentpunkte hinter Bernhard Loos von der CSU. Am Wahlabend hatte Post, dem Sebastian Roloff überraschend den Spitzenplatz bei der Listenaufstellung der Oberbayern-SPD abspenstig gemacht hatte, seine eigene Wahlparty im Franziskaner bei der Oper. Weil er nicht mehr über die Bayern-Landesliste der SPD abgesichert ist, bedeutet der Verlust des Direktmandats für ihn das Ende seiner Bundestagskarriere. Spannend bleibt es dagegen bis zum Schluss in München-West zwischen Stephan Pilsinger (CSU) und Dieter Janecek (Grüne).

Ein letztes Mal im Rampenlicht: Florian Post feiert mit seinen Helfern im Franziskaner, kann aber nicht aufs Direktmandat anstoßen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

21.50 Uhr: Am späten Abend meldet sich der privat verhinderte Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) doch noch schriftlich zu Wort. "Trotz der großen Freude über den sich immer deutlicher abzeichnenden Sieg für Olaf Scholz und die SPD ist es schade, dass wir in München kein Direktmandat holen konnten und auch im Vergleich zu 2017 nur ganz leicht bei den Zweitstimmen zulegen konnten." Das müsse im Nachgang analysiert werden, so Reiter. Für ihn sei aber auch klar: "Entscheidend ist das tolle Gesamtergebnis der SPD und von Olaf Scholz."

Hat er – Olaf Scholz – der Münchner SPD geholfen? Die Stimmung unter den Genossen auf dem Nockherberg ist gut, sie singen zu Die Atzen. (Foto: Stephan Rumpf)
© SZ vom 27.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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