Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Bühne? Frei!:Retter der Musik

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Kultur-Lockdown, Tag 1: Der Sänger und Intendant schreibt seinem Publikum

Gastbeitrag von Thomas E. Bauer

Der Legende nach soll der Komponist Giovanni Pierluigi da Palestrina beim Konzil von Trient im Jahre 1562 die Kirchenmusik und womöglich die abendländische Musik in ihrer Gesamtheit gerettet haben. Vor allem seine legendäre Missa "Papae Marcelli" hinterließ angeblich einen überwältigenden Eindruck bei den Konzilsteilnehmern, die im Zuge der Gegenreformation die hohe Kunst der vokalen Polyphonie abwickeln wollten.

So einen Retter der Musik würden wir jetzt wieder brauchen. Jetzt im Trauermonat November, in dem uns die Politik einen Lockdown der darstellenden Künste beschert. Alle musikalischen Aufführungen wurden storniert. Für mich als Konzerthaus-Intendanten in Blaibach gibt es nichts Betrüblicheres, als Konzerte abzusagen, 31 allein für den November, jedes einzelne ein Zeichen dafür, wie wichtig Musik für uns ist, für die Künstler wie für die Zuhörer. Die eigenen Absagen als Sänger stecke ich da vergleichsweise locker weg.

Als Knabe bei den Regensburger Domspatzen hat mich der Palestrina-Mythos von Musik und Erlösung fasziniert. Später habe ich öfter davon geträumt, seine 113 Messen, von denen höchstens eine Handvoll heute noch geläufig sind, in einem Stück zu hören oder selbst zu singen. Natürlich ein absurder Plan. 50 Stunden komplexe Mehrstimmigkeit aus einer längst vergangenen Zeit, wen soll so etwas interessieren? Also verschwand das abwegige Vorhaben wieder in meinen Schubladen.

Aber jetzt ist die Zeit, die Idee wieder aufzugreifen. Denn was dürfen Künstler jetzt überhaupt noch? Im Stillen arbeiten und - beten. "Bis orat, qui cantat", meint Augustinus. Wer singt, betet zweifach. Singend beten müsste in dieser Zeit doch erlaubt sein, wenn man die notwendigen Abstände und Hygienemaßnahmen einhielte. Ich mache also meine Schubladen wieder auf und hole Palestrina hervor. Vielleicht kann er ja uns Musiker noch einmal retten!

Ich stelle mir eine mindestens 24-stündige Meditation im Wechselgesang vor. Reine und erhabene Polyphonie, vier bis achtzehnstimmig. Ein Mantra der Utopie. In der Renaissance wollte man utopische Räume formulieren, nicht nur in der Musik. Utopia Triumphans - Sieg der Vorstellungskraft. Die Sänger werden leicht zusammenkommen, sie sind ja nun alle arbeitslos. Jeder kann still mitbeten, wenn er Abstand hält. Es ist zu hoffen, dass sich eine Kirchendirektion erbarmt und die Pforten in diesen Wochen öffnet, damit Palestrina, der konservative Erneuerer, wieder auferstehen kann und neue Möglichkeitsräume eröffnet. Vielleicht sollte die Bayerische Staatsregierung diesmal zuhorchen. Der Engel Aloisius ist ja bekanntermaßen mit der Überbringung himmlischer Weisheiten ins Maximilianeum kläglich gescheitert.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2020
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