Theaterpremiere:Kunst aus der Küche

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Wenn man seinen Mitspieler nicht sehen kann, ist es schwer, im richtigen Moment zu reagieren. In endlosen Videoproben übten die neun Studierenden das Timing. Schminken und frisieren mussten sie sich unter Fern-Anleitung der Maskenbildnerin selbst - auch von zuhause aus. Filmstill: Theaterakademie August Everding (Foto: N/A)

Die Studierenden der Theaterakademie verlegen ihre Abschlussinszenierung "Wir sind noch einmal davon gekommen" ins Netz. Sie beweisen: Theater ist auch digital möglich. Ohne große Kompromisse allerdings geht es nicht

Von Christiane Lutz

Als der Vorhang fällt, herrscht einen Moment lang Stille. Kein Applaus, keine Spannung, einfach nichts. Dann jubeln die neun Schauspieler einander zu, werfen Luftküsse, weil das mit den echten Umarmungen ja gerade schwer ist. Vor allem, wenn jeder in einem anderen Zimmer irgendwo in Deutschland sitzt. Die Studierenden der Theaterakademie August Everding haben "Wir sind noch einmal davongekommen" komplett im Netz gespielt, live auf Youtube. Es ist die Abschlussinszenierung ihres Schauspielstudiums. Die markiert für gewöhnlich einen wichtigen Endpunkt in der Ausbildung, einen Startmoment ins Berufsleben. Aber was ist dieser Tage schon gewöhnlich.

Als am 11. März die Proben beginnen sollen, wird klar, dass die Theater bis auf Weiteres den Spielbetrieb einstellen müssen. Da sitzt Regisseur Marcel Kohler in Berlin buchstäblich auf gepackten Koffern. Soll er nach München fahren? Er bleibt in Berlin, die Produktion wird abgesagt. Besser gesagt: Das, was sie eigentlich hätte werden sollen, ist abgesagt: Ein Abend mit echten Menschen und echten Zuschauern in einem Raum. Marcel Kohler, 29, ist Schauspieler am Deutschen Theater Berlin und führt hin und wieder Regie. Er entscheidet schnell: Wir probieren was Neues. "Das Stück ins Netz zu verlegen, sollte keine Notlösung sein, sondern eine künstlerische Chance", sagt Kohler. Manche der Studierenden sind erst skeptisch, dann überzeugt er sie. So baut das Team in endlosen Videokonferenzen "Wir sind noch einmal davongekommen" zur Video-Inszenierung um. Kohler dirigiert von Berlin aus. Mühsam sei das gewesen. Stundenlang in Laptops hineinsprechen, Kopfschmerzen, man spüre übers Internet nicht recht, wenn es einem Einzelnen schlecht gehe. Sie kriegen es irgendwie hin. Aber bis heute hat Kohler einen Teil der Gruppe nicht persönlich getroffen.

Eine von denen, die er wenigstens einmal getroffen hat, ist Tamara Romera Ginés, 25. Sie sitzt derzeit bei ihren Eltern in Mönchengladbach, wobei "sitzt" das richtige Wort ist, denn Ginés hat sich Anfang März bei einer Tanzprobe den Fuß gebrochen. Ein paar Tage früher als alle anderen dachte sie also schon, das war's, die Abschlussinszenierung wird nicht das sein, was sie sich gewünscht hatte. Für sie war der Zwangsumzug ins Netz eine Art Gleichmacher: "Ich dachte, okay, jetzt hab' ich eine Chance, mitmachen zu können, ohne dass der gebrochene Fuß großartig reinspielt." Sie wirkt zupackend am Telefon, jemand, der auch das Gute sehen kann.

Der Zauber des Theaters besteht aus der realen Begegnung im echten Raum zu einer bestimmten Zeit. Die Corona-Krise macht deutlich, wie wenig davon sich in ein anderes Medium retten lässt. Einerseits ist das schön, weil es die Besonderheit von Theater betont, vor allem aber ist diese Erkenntnis bitter. Wo damit zu rechnen ist, dass es noch lang dauern wird, bis man wieder eng aneinandergedrängt im Zuschauerraum sitzen wird, während sich Schauspieler auf der Bühne nah kommen, schwitzend, keuchend, auch spuckend.

Die Experimente der Theater sind zahlreich: Streams, Lesungen per Video-Konferenz, Quiz-Abende. Schauspieler des Residenztheaters etwa rufen zu Hause an und lesen etwas vor. Eine echte Alternative zum Theaterbesuch ist bislang nichts davon. Aber muss es die geben? Oder gilt es nicht, jetzt eigene Formen zu finden?

Kohler entscheidet sich für Letzteres. Denn schnell merkt er bei den Proben, was nicht geht: der "Big Brother"-Modus etwa, bei dem man die Schauspieler dabei beobachtet, wie sie sich ein Käsebrot schmieren. Es braucht eine Art Bühne, stellt er fest, auch wenn jeder zu Hause spielt. Auch Live-Sprache ist schwierig. Durch technische Verzögerungen ist rhythmisches Sprechen auf Anschluss praktisch unmöglich. "Bei neun Leuten hängt ständig was", sagt Kohler, nervig war das und künstlerisch wirkte das absolut nicht. Also entschieden sie, die Sprache, einen elementaren Teil der Schauspielkunst, aufzugeben. Sie sprechen den Text als Hörspiel ein und lassen ihn zu ihrem Spiel vor der Kamera laufen, während sie die Lippen dazu bewegen.

Die Premiere auf Youtube sehen dann rund 1000 Menschen. Mit großem technischem Aufwand werden die neun Spieler zusammengeschaltet. Perfekt getimt reichen sie einander vermeintlich Taschentücher und Küsschen ins Nachbarfenster. Die zu Fratzen geschminkten Gesichter, stets nah an der Kamera, sind die Hauptakteure dieser Inszenierung. Der Körper ist eher nebensächlich, die Stimme ist ja auf Band ausgelagert.

"Wir sind noch einmal davongekommen" von Thornton Wilder passt auf absurde Weise zur aktuellen Situation. Im Stück von 1942 begegnet die amerikanische Familie Antrobus verschiedenen Katastrophen - Eiszeit, Sintflut - und muss damit zu Hause eingesperrt umgehen. Sätze wie "die ganze Welt ein Chaos" oder "Wir haben gerade noch so überlebt" wirken wie extra reingeschrieben. Sind sie aber nicht. Das Stück funktioniert als Video-Kunst sehr gut, ist rasant und witzig, die Isolation und eingeschlossener Wahnsinn der Figuren kommen tatsächlich rüber, wenn die Spieler irr in die Linse glotzen.

"Bei mir hat ausgerechnet gestern das Internet nicht funktioniert", sagt Tamara Romera Ginés am Tag nach der Premiere. Immer wieder hängt ihr Bild dem der anderen hinterher, sie versucht, voraus zu agieren, damit Lippen und Ton wieder zusammenpassen. "In dem Moment fühlte ich mich unfassbar allein", sagt sie. Kein Techniker, den man zur Hilfe holen kann, keine Notfall-Entschuldigung ans Publikum. Beim Abschlussbild winkt sie mit ihren Krücken. Große Erleichterung, als alles vorbei ist. Ob sich Menschen das Video angesehen haben, die ihr beruflich weiterhelfen könnten, Intendanten, Agenten, das weiß Ginés noch nicht. Ob das große Vorsprechen im Herbst stattfinden kann, auch nicht. Fest steht nur, bald werden sie und die anderen fertig sein mit dem Studium. Dann wollen sie spielen.

© SZ vom 20.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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