Sie waren in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts das wohl coolste Geschwisterpaar in Europa, bisexuell, homosexuell, intellektuell, politisch hellsichtig und komödiantisch scharfzüngig: Erika und Klaus Mann, vor 54 beziehungsweise 74 Jahren gestorben, die als fiktive "Mann-Twins" - tatsächlich wurden die Dichterkinder mit einem Jahr Abstand 1905 und 1906 in München geboren - zusammen Theater spielten, durch die Welt tourten und darüber schrieben. Zwillinge im Geist, wenn auch die eine lebensmutiger war als der andere, der im Alter von 42 Jahren Suizid beging.
Heute würden sie als androgyne Pop-Dandys sicherlich im Internet reüssieren, ihre Kommentare und Berichte als Influencer auf den diversen Social-Media-Kanälen veröffentlichen. So wie sie damals schon ihre Schilderungen "Reiseberichte Rundherum. Abenteuer einer Weltreise" (1929) und "Das Buch von der Riviera" (1931) nutzten, um ihre Begegnungen und Erlebnisse, aber vor allem sich selbst und ihren Lifestyle zu stilisieren, irgendwo zwischen Fakt und Fiktion. Anknüpfungspunkte gibt es also zuhauf, um anhand dieser Geschwister Fragen von fluider Geschlechteridentität, von Coming Out und Selbstbestimmung zu thematisieren.
"Diese etwas weiten, breiten Hemden, die erst am Kragen eng zulaufen, dazu Krawatten und Mützen, das mögen wir beide", zitieren Erika (Lucia Schierenbeck) und Klaus (Janosch Fries) den ikonischen Look der "Mann-Twins" gleich zu Anfang in "Erik*a", der von Daniel Pfluger und Lukas März inszenierten Mulitmedia-Revue in der Kleinen Burg. Dort, wo sonst die Kleinkinder in der heimeligsten Spielstätte der Schauburg erste Theatererfahrungen sammeln, haben jetzt auf Kissen und Bänken gerade mal 30 Premierengäste Platz genommen, begleitet von dem 100 Jahre alten "lila Lied", der Homosexuellen-Hymne "Wir sind nun einmal anders als die Andern". Hier sei ein "Safe space", ein "sicherer Ort", erklärt Schierenbeck, geboten würden "Verheißungen und Entgleisungen" für alle, "die auf der Suche und noch nicht festgelegt sind". Die schwarz-weißen Fliesen auf dem Boden assoziieren die New Yorker Ballroom-Szene mit ihrem Wettbewerbs-Mix aus Tanz, Drag und Lip-syncing (Lippensynchronisation).
Als queere Performer und Performerinnen präsentieren sich denn auch Fries und Schierenbeck, in silbriger Glitzerrobe stakst der eine auf High Heels, in blauem Samtfrack mit silbernem Oberlippenbart und Griff in den Schritt die andere über den Theater-Laufsteg. Während Fries seine Lip-Sync-Version des Songs "You're the Best Man I've ever known" präsentiert, rockt Schierenbeck den Song "I want it all". Zwischen diesen Musik-Nummern, die Fries sogar noch mit einem virtuosen Handstandüberschlag in High Heels garniert, reflektieren die Geschwister ihre Situation - in Monologen und Dialogen, die eng an eine jugendliche Erfahrungswelt anknüpfen, lyrisch dicht und poetisch verpackt von der Münchner Autorin Theresa Seraphin, die zum Mann-Kosmos bereits vor zwei Jahren im Auftrag der Monacensia die Lyrik-Performance "Erika & Therese Gay again" verfasste.
"In diesem Haus, in dieser Wohnung, in diesem, in meinem Zimmer, kann ich alles sein", sagt Erika, laut Klaus die "atemberaubendste Schwester der Welt". "Hier gibt es kein Mann-Frau, schwach-stark, zart-hart. Hier kann ich meine Identität wechseln, als wär' sie ein Kostüm", führt Schierenbeck ihren Monolog als Erika fort. Worte, die "der schönste Bruder der Welt", wie sie ihn nennt, später aufgreift und ergänzt: "Nirgendwo sonst als vor dem Screen, als auf der Bühne ist so richtig Platz für mich".
Der Safe Space ist erweitert um genau 35 Zuschauer, die die Aufführung in Echtzeit online verfolgen können. Ihre Gesichter sind zwischendurch - so sie ihre Kameras einschalten - auf einem Smartphone-Monitor zu sehen, als Applaus können sie über einen Button Konfetti rieseln lassen. Eine Premiere auch für diese Form der Präsentation in der Schauburg, die weit mehr ist als abgefilmtes Theater: Denn die Technik operiert mit mehreren Kameras, dazu filmen sich die Darsteller immer wieder selbst. Auf dem Bildschirm zu Hause entsteht so eine zweigeteilte Szenerie, mit intimen Nahaufnahmen am Schminktisch etwa und Einstellungen aus der Totalen. Auch wenn das analoge Theatererlebnis atmosphärisch dichter und unmittelbarer ist, ist es sinnvoll, dieses Stück für Interessierte zu öffnen, die entweder weiter entfernt wohnen - oder die Thematik lieber alleine verfolgen möchten.
Aus ihrem queeren Alltag berichten Drag Queen und Drag King in eingespielten Videos
Erhellendes aus dem queeren Alltag ist auch geboten. Eingespielt werden Videos etwa der Münchnerin Mäx, die als King Tenu auftritt, oder Deutschlands einziger Baritonistin, Lucia Lucas, die nach Coming-Out und Geschlechterangleichung weiterhin Männerrollen unter anderem an der New Yorker Met singt. Derweil umkreisen sich in der Kleinen Burg die Geschwister lauernd beim Thema erste Verliebtheit, benötigen mehrere Anläufe, um vor sich und dem jeweils anderen zu bekennen, dass sie Menschen gleichen Geschlechts begehren. "Schau, ich lieb dich. Obwohl es heißt, wir seien zu gleich", dichtet Erika einer "Sista" genannten Freundin im Traum.
Ein Video am Rand der Bühne hält die Reisen gewärtig, bei denen die Geschwister im offenen Ford Ende der Zwanzigerjahre die südfranzösische Küste entlangbrausten. Doch auch wenn sie die gleichen Sachen lieben, das schnelle Cabrio, die Haare im Wind, sind sie sehr unterschiedlich. "Ich lieb mit den Augen - du willst immer alles anfassen. Du liebst mit den Händen", konstatiert Fries als Klaus. "Du willst immer überall reinspringen. Ins Auto springen, in den See springen, in die Nacht springen, in den Tag springen, vom Turm springen. Ins Abenteuer springen!" Dafür wolle er "immer überall sitzen", wehrt sich Schierenbeck. "Im Cabrio sitzen, am Meer sitzen, in der Nacht sitzen, auf dem Turm sitzen, wirklich, wenn ich an dich denke, seh' ich dich irgendwo sitzen."
Am Ende dieser coolen und mit irre viel Verve gespielten Revue finden sie noch einmal an einem Tisch irgendwo in Paris eher zufällig zusammen, 15 Jahre nach ihren Reisen. Warum ist er damals einfach gegangen? "Man kann eben nicht für immer in einem Zimmer leben", erklärt der Bruder seiner Schwester.
Erik*a , ab 16 J., nächste Termine: 22. bis 27. Februar, Schauburg, Elisabethplatz, www.schauburg.net