Süddeutsche Zeitung

Theaterkritik:Vom Jungen, der eine tödliche Spur hinterließ

Premiere von David Greigs "Die Ereignisse" im Marstall: Eine Chorleiterin wird Zeugin und Opfer einer unbegreiflichen Tat.

Von Anne Fritsch

Warum? Claire findet keine Antwort auf diese Frage. Warum kam dieser Junge in den Gemeindesaal und schoss wahllos auf die Mitglieder ihres Chors, der gerade probte? Ein friedlicher Ort, ein Ort der Begegnung auch für die, die sonst keinen Halt haben in der Gesellschaft. Claire ist eine Überlebende, aber auch eine Traumatisierte. Das Geschehene lässt sie nicht los. - Der schottische Autor David Greig schrieb sein Stück "Die Ereignisse" nach den Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya im Jahr 2011. 2013 wurde es in Edinburgh uraufgeführt, nun hat es Daniela Kranz im Marstall inszeniert.

Nur zwei Spiel-Rollen sieht das Stück vor: Claire und "Der Junge", der Attentäter, den Claire permanent vor Augen hat und der folgerichtig auch alle anderen Rollen übernimmt. Egal, wem Claire begegnet: Sie sieht nur ihn. Evelyne Gugolz begrüßt zu Beginn "ihren" Chor, umarmt überschwänglich den Pianisten (Stephen Delaney) und lädt unbeschwert den Neuen dazu: "Wir sind hier eine große, verrückte Truppe. Komm ruhig dazu." Es ist die Erinnerung an die Zeit davor. Ab da wird gesprungen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Es gibt surreale Szenen, in denen die Opfer ihren zukünftigen Attentäter interviewen, und sehr reale, in denen Claire die Gewalttat aufs Neue durchlebt. Sie vergrault ihren Chor durch schamanische Heilrituale und gefährdet ihre Beziehung durch ihre Rachefantasien.

Auf ihrer Suche nach Antworten spricht Claire mit Menschen aus dem Umfeld des Jungen, spürt seinem Leben nach. Sie täuscht öffentlich Vergebung vor, um ihn im Gefängnis mit seinen Taten konfrontieren zu können (die Taschen voll giftiger Knollenblätterpilze). Auf ihr Warum antwortet er: "Ich war wütend und hatte eine Waffe." Valentino Dalle Mura lässt die Motive seiner Figur im Unklaren, deutet viel an, flüchtet sich in Erzählungen von Wikingern und Berserkern, fürchtet, dass ihm die Zeit davonlaufe: "Wenn ich eine Spur in der Welt hinterlassen will, dann muss ich es jetzt tun. Die einzigen Mittel, die ich habe, sind Kunst oder Gewalt. Und ich war nie gut im Zeichnen."

Jede Aufführung wird zur Premiere - mit einem anderen Chor als Unbekannten

Die Produktion, die in der Reihe "Resi für alle" läuft, setzt auf Partizipation: Der Chor wird aktiver Teil der Auseinandersetzung mit den "Ereignissen". Jede einzelne Aufführung ist eine Premiere: Denn jedes Mal spielt ein anderer Münchner Chor mit. Fünf der gesungenen Lieder sind festgelegt und werden von den Chören vorab einstudiert. Drei Lieder bringt jeder Chor selbst in den Abend ein. Da ist dann alles möglich, von der Bach-Kantate bis zu "Lalalalalala" von Bud Spencer und Terence Hill, das der "Bud Spenzer Heart Chor" aus Giesing mit zur Premiere brachte. Ensemble und Chor treffen erst zwei Stunden vor der Aufführung aufeinander. Was die einen singen, was die anderen spielen, bleibt für die jeweils andere Seite überraschend. "Die Ereignisse" sind ein spannendes Projekt, bei dem die Impulse von beiden Seiten kommen und unberechenbar bleiben. Ein Projekt auch über die gemeinschaftsstiftende Kraft der Musik. Bis Februar hat sich schon für jede Aufführung ein Chor gefunden, über weitere Bewerbungen freut sich das Team (das übrigens auch mobil in den Räumlichkeiten des Chores spielen würde).

Die Ereignisse, nächster Termin mit dem Attac-Chor, Do., 24. Nov., 20 Uhr, Marstall

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