Theatergemeinde München:Aus Liebe zur Kultur

Inge und Franz Samuel nutzen seit mehr als 70 Jahren das Angebot der Kulturorganisation

Von Barbara Hordych

"Wer zwei Spielzeiten bei uns mitgemacht hat, bleibt bis zu seinem Ende dabei", sagt Michael Grill, der Leiter der Theatergemeinde München. "Sagen wir lieber, er bleibt, bis er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausreichend mobil ist", korrigiert ihn Kollegin Jennifer Becker. Sie ist hauptberuflich als Sprecherin des Kulturreferats tätig, ehrenamtlich fungiert sie als Vorständin der Theatergemeinde München. Wie auch immer, was die beiden engagierten Kulturorganisatoren ausdrücken wollen, ist klar.

Ein Beispiel dafür ist das Paar aus Hohenschäftlarn, das sich an diesem hochsommerlichen Vormittag in dem Büro der Theatergemeinde in der Goethestraße 24 eingefunden hat: Inge und Franz Samuel sind die "langjährigsten Mitglieder" des Kulturvereins, der in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiert. 71 Jahre davon hat Franz Samuel miterlebt.

Er trat mit 16 Jahren am 1. Oktober 1948 ein, kurz nach der Wiedergründung des Vereins in der Nachkriegszeit. Seine Frau Inge folgte ihm später nach. Die Begeisterung für Konzert, Theater und Oper hat das Paar ein Leben lang begleitet, heute sind die beiden 87 und 77 Jahre alt. Mit dem Lied "Reich mir die Hand mein Leben" aus Mozarts "Don Giovanni" hat Franz seiner Inge seinerzeit den Heiratsantrag gemacht. Und sofort beginnt der hochbetagte Kulturfreund, das Lied vor sich hinzuträllern, Frau Inge lächelt verschmitzt dazu. Es ist dann jedenfalls nicht schwierig, sich das frisch verliebte Paar von einst vorzustellen.

Theatergemeinde München: Inge und Franz Samuel.

Inge und Franz Samuel.

(Foto: Robert Haas)

Es war alles andere als eine leichte Zeit, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten. Als Kinder mit ihren jeweiligen Familien aus dem Sudetenland vertrieben, landeten sie nach mehrere Stationen in Oberbayern. 1960 lernten sie sich bei einem Trachtenfest in Sindelsdorf kennen und stellten fest, dass sie kurioserweise aus derselben kleinen Ortschaft im heutigen Tschechien stammten. "Mein Vater war mit dem Bruder seiner Mutter befreundet", erklärt Inge Samuel. Franz Samuel kam aus Hohenschäftlarn zum Fest. Als er den Namen an dem kleinen Laden las, den Inges Eltern neben ihrer Landwirtschaft führten, wurde er stutzig und trat ein. "Meine Eltern luden ihn sofort ein; ich hätte nie gedacht, dass er auf mich schaut, für mich war klar, dass er sich nur für meine ältere Schwester interessieren kann". Sie war damals 16, ihre Schwester 18 Jahre alt.

Zwei Jahre später war es aber die jüngere Schwester, die der begeisterte Kulturfreund Franz zu "Don Giovanni" ins Prinzregententheater einlud. Und um deren Hand er mit besagtem Lied anhielt. In den folgenden Jahrzehnten waren es noch viele Kulturereignisse, die das Paar gemeinsam erlebte, vermittelt durch die Theatergemeinde. Etwa die Matthäus-Passion von Bach mit dem großen Dirigenten Karl Richter oder Opernaufführungen im Prinzregententheater mit Erika Köth als Königin der Nacht in der "Zauberflöte" oder mit Herta Töpper als Rosenkavalier. "Damals wurden die italienischen Opern wie Don Pasquale von Donizetti noch in deutscher Sprache aufgeführt, ich fand das eigentlich sehr gut, wer von uns konnte schon italienisch?", sagt Franz Samuel.

Theatergemeinde München: Der Eingang zur Geschäftsstelle der Theatergemeindein in den Fünfzigerjahren.

Der Eingang zur Geschäftsstelle der Theatergemeindein in den Fünfzigerjahren.

(Foto: Theatergemeinde München)

Gut erinnert sich der ehemalige Industriekaufmann, der in einem Geschäft der AEG in der Schillerstraße arbeitete, an den Wege zur Geschäftsstelle der Theatergemeinde in der Goethestraße. In der Nähe gab es eine Buchhandlung. "Die stellte immer die Reclamhefte passend zu den gespielten Opern im Schaufenster aus", sagt Samuel. Er kaufte und las sie eifrig, voller Vorfreude auf die Aufführung.

"Damals war die Nachfrage viel größer als das Angebot", sagt Michael Grill. Es ging darum, die verfügbaren Karten möglichst gerecht unter den Interessenten zu verteilen. "Es war für die Bevölkerung nach dem Krieg einfach wunderbar, wieder Kultur erleben zu können", erinnert sich Franz Samuel. Höhepunkte waren für die Eheleute die geschlossenen Veranstaltungen für Familien, die die Theatergemeinde für ihre Mitglieder kaufte. "Hänsel und Gretel" etwa erlebten die Samuels erst mit ihren beiden Kindern, später mit den Enkelkindern. Einmal lernten sie in Aufkirchen am Starnberger See den Sohn von Engelbert Humperdinck kennen. "Er erzählte uns, dass er der erste Hänsel in der Oper seines Vaters war", sagt Franz Samuel. Daraufhin schrieb er der Theatergemeinde einen Brief, die Wolfram Humperdinck prompt zur nächsten Hänsel-und-Gretel-Aufführung im Nationaltheater einlud. Von dieser Begegnung zeugt noch heute eine von Wolfram Humperdinck signierte Schallplatte.

Anfang der Achtzigerjahre zählte die Theatergemeinde noch 60 000 Mitglieder, gegenwärtig sind es 20 000. Trotzdem ist die Organisation immer noch Münchens größter Kulturverein. Das Angebot der 60 Münchner Bühnen, egal ob städtische, staatliche oder freie, sei aber mittlerweile größer als die Nachfrage, erklärt Grill. Deshalb habe sich die Aufgabe der Theatergemeinde gewandelt: "Wir verstehen uns heute eher als Kulturlotsen." Die Mitglieder erhielten zweimal im Monat Kulturaufrufe zu Veranstaltungen, auf die sie selbst vielleicht nicht gekommen wären. Und erlebten eine Vielfalt, die sie als Abonnenten eines Hauses nicht erfahren würden.

Theatergemeinde München: Die alten Programmhefte.

Die alten Programmhefte.

(Foto: Robert Haas)

Zudem sei München eine Stadt mit über vierzig Prozent Single-Haushalten, sagt Becker. "Um so wichtiger ist es da, die Menschen an Kulturorten miteinander ins Gespräch zu bringen, das Gruppengefühl durch Tagesfahrten zu fördern." An die Kulturreisen hat das Ehepaar Samuel noch beste Erinnerungen. "Die Opernaufführungen am Roten Tor in Augsburg waren wunderschön", schwärmt Inge Samuel. Als das 100-jährige Bestehen der Besucherorganisation im Hofbräuhaus gefeiert wurde, waren die Samuels selbstverständlich dabei. "Ein wenig war das auch unser Fest", sagt Franz Samuel und drückt innig die Hand seiner Frau.

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