Theaterprojekt zu psychischen Erkrankungen:Gefangen in der Angst

Theaterprojekt zu psychischen Erkrankungen: Gefangen in den eigenen Gedanken: Gabriele Graf als Sonja in Christiane Mudras "Selfie & Ich".

Gefangen in den eigenen Gedanken: Gabriele Graf als Sonja in Christiane Mudras "Selfie & Ich".

(Foto: Verena Kathrein)

Christiane Mudra hat mit "Selfie & Ich" einen klugen Theaterabend über psychische Erkrankungen entwickelt.

Von Yvonne Poppek

Lange werden die Gäste in Sonjas Haidhauser Altbauwohnung nicht bleiben, etwa 20 Minuten nur. Sonja wird nicht mit ihnen reden, sie aber über eine Soundspur an ihren Gedanken teilhaben lassen, an ihrer Angst und Einsamkeit, an ihren Erinnerungen, an ihrem Kampf gegen die Sucht und ihrer zerbrechlichen Zuversicht. Es ist der Gedankenkreislauf einer psychisch Erkrankten, in den Christiane Mudras Dokumentartheaterabend "Selfie & Ich" hineinführt. Mudra bedient dabei weder Voyeurismus, noch zwingt sie die Zuschauer in eine Betroffenheit. Der beeindruckende Abend erzählt, was ist, und macht die Tür auf zu einem größeren Verständnis.

Christiane Mudra macht sehr versiertes, intensiv recherchiertes Dokumentartheater, zuletzt mit "The Holy Bitch" zu Gewalt an Frauen oder mit "Der Schlüssel" zu Verschwörungstheorien. Nun geht es um "psychische Erkrankungen, Leistungsgesellschaft und Glücksterror". Das Thema betrifft keinesfalls eine Randgruppe. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums leidet fast jeder dritte Mensch im Laufe seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung. Für ihre Recherche hat Mudra mit Betroffenen gesprochen und aus Interviews von je sechs bis acht Erkrankten vier Figuren entwickelt. Sie sprechen über sich selbst, Experten der eigenen Sache - das ist die eine Stärke des Abends, der noch bis zum 4. Dezember zu sehen ist.

Die andere ist, dass Mudra versteht, ihre Recherchen in Theatersprache zu übersetzen. "Selfie und ich" wird in verschiedenen Privatwohnungen gespielt. Die Zuschauer erfahren beim Ticketkauf den genauen Treffpunkt in Haidhausen. Sie erhalten Kopfhörer, darüber hören sie Mudras Texte und O-Töne. Vier Wohnungen werden besucht, darin geben nacheinander Gabriele Graf, Murali Perumal, Sebastian Gerasch und Melda Hazirci die Bewohner, zeichnen Erkrankungen nach, Alkoholsucht, Depression, Paranoia, Anorexie. Sie ringen in den vier Wänden mit dem Alltag. Am Ende des Abends ist man aufgewühlt, aber dem Begreifen so nah wie nie.

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