Wenn jemand krank wird, muss der Chef ran. Jetzt, in der zweiten Aufführung, wenige Tage nach der Premiere, sind gleich zwei krank. Nervös macht das Sebastian Ritschel nicht. Bis 15 Minuten vor Beginn der Vorstellung hat er Zeit zu plaudern. Dann sieht man ihn auf der Bühne. Als Untersuchungsrichter, live in einem der Fernseher des Bühnenbilds, und als Prügler, live auf der Bühne. Der Gesangspart wird ihm abgenommen, Elmar Andree, eine halbe Stunde vor Beginn aus Dresden angereist, steht links vor einem Notenpult. Zwei Einspringer, der eine singt, der andere spielt, und der, der spielt, ist der Intendant, Operndirektor und Regisseur der Inszenierung.
Sebastian Ritschel ist seit wenigen Wochen Intendant des Theaters Regensburg und zeigt als erste Premiere im Musiktheater ein Stück, das man so ohne weiteres heute auf Bühnen nicht mehr findet, "Der Prozess" von Gottfried von Einem. Die Oper hatte ihre Uraufführung 1953 bei den Salzburger Festspielen, wurde einige Zeit beherzt nachgespielt, bis sie eher in Vergessenheit geriet. Zu uneindeutig schien Einems Werk in seiner Mischung aus tonaler, auch manchmal jazziger, in den Liebesszenen unverhohlen an Puccini erinnernder Musik und einer Abfolge aus Kafkas Roman herausgeschälter, surrealer Bilder. Tatsächlich fehlt der Oper eines fast gänzlich: die Vermittlung eines Gefühls von Macht und Machtlosigkeit. Das System, in dessen Fängen sich Josef K. befindet, wirkt hier irritierend ungefährlich.
Eher ist das Ganze ein Nachtmahr, und so hat es Ritschel auch inszeniert, 2021 in Radebeul, an den Landesbühnen Sachsen, wo er die Musiktheatersparte leitete. Seine Inszenierung nahm er von dort mit nach Regensburg, auch die musikalische Fassung von Tobias Leppert. In Sachsen suchten sie nach einer corona-tauglichen Version, also kleine Orchesterbesetzung, mehr Abstand. Nun existieren drei Varianten: die große, originale, eine ganz kleine und eine mittlere, mit der man in Regensburg arbeitet. Sie klingt gut, sehr gut, hat genug Farben, genug Druck, und Tom Woods dirigiert das Orchester, das gewohnheitsgemäß mit allem zurechtkommt, was man ihm vorsetzt, sehr überzeugend.
Ein Haus in einer Stadt von der Größe Regensburgs mit diesem Stück zu eröffnen, zeugt von Mut. Aber die Regensburger sind Theaterverrückte, sie gingen auch fröhlich in alles, was ihnen Ritschels Vorgänger Jens Neundorff von Enzberg vorsetzte, wobei der einen untrüglichen Instinkt für die Mischung hatte: erst Mozart, dann eine Uraufführung, als nächstes ein wundervoll durchgeknalltes Regieprojekt und dann wieder Verdi. Ritschels Pläne sehen auch Verdi vor. "Macbeth", neben Bernsteins "Candide" das einzige Werk, das einem größeren Publikum bekannt sein sollte. Ansonsten gibt es in Ritschels erster Saison "1984" von Lorin Maazel, die "Weiße Rose" von Udo Zimmermann, "Pinocchio" von Jonathan Dove und einiges an Musical - Ritschel erzählt, er habe gute Kontakte nach New York und London, das erleichtert den Kampf um die Aufführungsrechte. Und: Er wolle bekannte Stoffe in unbekannten Werken zeigen.
Geboren wurde er 1980 in Düsseldorf, an der Oper dort war er zehn Jahre lang als Statist und Kleindarsteller unterwegs, das Einspringen nun ist ihm also durchaus vertraut. Er war lange leitender Dramaturg und Hausregisseur in Görlitz-Zittau, von 2017 an dann Opernchef an den Landesbühnen Sachsen, inszenierte an vielen anderen Häusern Opern, Musicals, gemäßigt Zeitgenössisches. Für Regensburg reichte er einfach ein Konzept ein, das beinhaltete, alle Genres gleichberechtigt zu sehen; jetzt hat er Musical-Darsteller im Ensemble, eine Puppenspielerin, und er will in jeder Spielstätte jede Sparte zeigen. Derzeit ersetzt das Antoniushaus das Velodrom, das renoviert wird; als Ritschel seinen Vertrag unterschrieb, hieß es, nach seiner ersten Saison könne er dort wieder einziehen. Jetzt wird es wohl 2028.
Seine "Prozess"-Inszenierung läuft ab wie ein Uhrwerk, ist ein bisschen ulkig grell in der Figurengestaltung, aber darin stimmig. Sie prunkt mit ihrer Besetzung, der Tenor Daniel Pataky als K. ist fabelhaft. Doch bleibt der Abend so harmlos, wie es Einems Musik vorzeichnet. Nicht so harmlos ist ein anderer Punkt, der einzige, bei dem Ritschel im Gespräch einsilbig wird. Im Theater ist es normal, dass bei einem Wechsel der Leitung auch Teile des Ensembles ausgetauscht werden. Die Künstlerverträge sehen vor, dass sie Jahr für Jahr verlängert werden (oder eben nicht), mehr Sicherheit haben Tänzer, Schauspielerinnen und Sänger nicht. Im Herbst 2021 sprach Ritschel, so die Auskunft eines damaligen Ensemblemitglieds, 40 Menschen in allen Sparten die Nichtverlängerung aus. 40 bei einem Haus dieser Größe ist exorbitant, in Corona-Zeiten zudem noch problematischer, weil viele Aufführungen - für die Darstellenden, die ein neues Engagement suchen, Werbeveranstaltungen in eigener Sache - ausfielen, ein Wechsel an andere Häuser, die derzeit enger haushalten müssen, schwieriger geworden ist. Ritschel sagt heute dazu, dass er alles dazu gesagt habe. Gesagt hat er früher einmal, dass er sich vielleicht ein bisschen anders hätte verhalten sollen. Das kann er jetzt ja nachholen. Denen, die nicht mehr da sind, nützt das indes nichts. Aber wie gesagt, die Kündigungen, besser: Nichtverlängerungen, waren sein gutes Recht. Jeder Leiter sucht sich selbst die Leute, mit denen er arbeiten will. So hart ist das am Theater.