Theater:Im Räderwerk der Geschichte

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"Was ist schlecht? Was ist gut? Warum leben wir?" Das Mainfranken Theater in Würzburg sucht mit Tolstois "Krieg und Frieden" nach Anworten. (Foto: Falk von Traubenberg)

In Würzburg adaptiert Malte Kreutzfeldt Tolstois "Krieg und Frieden" für die Bühne

Von Florian Welle, Würzburg

Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn: Pierre Besuchow, Andrej Bolkonski und Natascha Rostowa ragen aus dem rund 250 Personen umfassenden Romangebirge "Krieg und Frieden" von Tolstoi heraus. Sie sind jung, unerfahren, ohne Orientierung. Pierre säuft und hängt den Idealen der Französischen Revolution nach. Seinen Freund Andrej ödet die adelige Gesellschaft ebenso an wie die Ehe mit der schwangeren Lisa, und er flüchtet in den Krieg. Beim Küken Natascha schließlich ist nur Herz Trumpf. Der frei arbeitende Regisseur Malte Kreutzfeldt hat aus Tolstois zur Zeit der Napoleonischen Kriege spielendem Epos eine Theaterfassung destilliert, in der die weitverzweigte Handlung zum größten Teil auf die drei Youngster und die Frage nach deren Platz im Leben zugeschnitten ist. Am Wochenende hat er sie in Würzburg auf die Bühne gewuchtet. Das meist gebrauchte Wort des Abends lautete: "Warum?"

Der Theaterbetrieb ist ein gefräßiges Tier. In den letzten Jahren hat es sich so gut wie jeden Roman des literarischen Kanons einverleibt. "Krieg und Frieden" gehörte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bislang nicht dazu. Die Adaption von Kreutzfeldt "nach Motiven von Tolstoi" könnte dies ändern. Sie hangelt sich nicht am Plot entlang, sondern legt den Kern des Mammutwerkes frei: Der Mensch im Räderwerk der Geschichte. Kreutzfeldts Fassung mündet konsequenterweise in einer Anspielung auf Albert Camusʼ Mythos des Sisyphos und verzahnt so den ewigen Sinn- und Gottessucher Tolstoi mit einem der prägendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Extreme.

Das Spielzeitmotto des Mainfranken Theaters bezieht sich direkt auf den Russen und ist mit "Krieg und Frieden" überschrieben. Bislang begab man sich unter anderem mit Ernst Jüngers "Sturm" in die Zeit des Ersten Weltkriegs und zuletzt mit Heiner Müllers "Der Auftrag" in die Jahre kurz nach der Französischen Revolution. Kreutzfeldts Tolstoi-Bearbeitung knüpft jetzt an Müllers Geschichtsdrama an und setzt es fort. Und wieder dreht sich alles um die Fragen, die Pierre Besuchow den Schlaf rauben, bis er durchdreht und meint, er allein sei dazu bestimmt, die Welt von Napoleon zu befreien: "Was ist schlecht? Was ist gut? Warum leben wir?"

Bei Tolstoi wütet unerbittlich der Mechanismus "der Kriegsmaschine". Kreutzfeldt und sein Bühnenbildner Nikolaus Porz haben für die über dreistündige Inszenierung die Theatermaschine angeworfen. Wir blicken auf einen albtraumhaften Weltenbrand. Das Bühnenbild verändert sich ständig: Da hebt und senkt sich ein riesiger Würfel, da dreht sich die große Bankett-Tafel, da regnet es unablässig von oben herab, da krachen Kanonenschüsse, fließt Theaterblut, brennt Feuer, wabert der Nebel. Zwischendurch bricht Kreutzfeldt durch groteske Momente die theatrale Vereinbarung und zeigt: Krieg, Mord und Totschlag realistisch nachzuspielen ist lächerlich, wir tun hier nur als ob. Die Aufführung steht im Zeichen des umgestürzten Kreuzes: Das Symbol des Christentums ist hier weiß, monumental und fast ständig zu sehen, immer in Schräglage. Davor, dahinter, dazwischen steht, diskutiert, lamentiert, rennt oder robbt das Ensemble in historisierenden Kostümen. Es ist ein starkes Ensemble-Spiel, aus dem die Darsteller der drei Hauptfiguren herausstechen: Sven Mattke als drahtig-energischer Andrej, der stämmige Oliver Jaksch als fahrig-zerrissener Gutmensch Pierre und die zierliche Claudia Kraus als zarter Unschuldsengel Natascha.

© SZ vom 13.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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