Süddeutsche Zeitung

Theater:Der Kuss vorm KZ-Galgen

"Mehr Schwarz als Lila": Der Jugendclub des Residenztheaters lädt zu einer gelungenen Schulstunde

Von Egbert Tholl

Man betritt den Marstall des Residenztheaters und ist gleich mal begeistert. Der Raum ist ein Klassenzimmer, mit vielen einzeln stehenden Tischen, an denen man zu zweit, wenn man zu zweit kommt, oder alleine Platz nimmt. In der Mitte sitzen acht junge Leute ebenfalls an solchen Tischen, die tragen keine Masken, also werden sie wohl gleich spielen. Eigentlich spielen sie schon, wenn man rein kommt. Sie spielen Schulklasse. Sie sind eine Schulklasse. Und sie werden eineinhalb Stunden lang viel Freude bereiten.

Vor vier Jahren veröffentlichte Lena Gorelik ihren Roman "Mehr Schwarz als Lila", der wunderleicht daherkommt, aber ganz viel Tiefe hat, die man auf verschiedenen Ebenen erkunden kann. Gorelik selbst machte daraus nun ein Theaterstück, dass sie der Regisseurin Daniela Kranz gab, die damit und mit dem Jugendclub des Residenztheaters eine Aufführung hinzauberte, die in jedem Detail einfach absolut zwingend ist.

Hat man Goreliks Roman gelesen, denkt man sich, der ist ja ökonomisch auf die Bühne zu bringen, man braucht drei jungen Menschen und einen Lehrer, alle anderen sind Couleur. Doch für ihre Stückfassung emanzipiert Gorelik die anderen, löst sie als Individuen aus dem Grundrauschen einer Schulklasse. Auch wenn man nun beim Beschreiben des Abends nicht umhin kommt, einige der Mitwirkenden explizit zu erwähnen, so ist dies im Kern falsch, weil er eine Gesamtleistung einer bemerkenswerten Gruppe ist, in der halt manche mehr reden als die anderen.

Im Zentrum der ganzen Geschichte stehen Alex (Amélie Althaus), die nur Schwarz trägt, weil sie Lila nicht mag, Ratte (Bernadette Leopold), die ihren echten Namen nicht mag, und Paul (Samuel Müller), der gerne Seneca liest. So aus Spaß. Überhaupt zeichnet Gorelik keine Schulklasse aus einem Problemviertel, was nicht heißt, dass es keine Probleme gäbe.

Das Trio feiert seine Freundschaft, fundamentiert diese mit selbsterfundenen Spielen, Mutproben, die vor allem im Preisgeben des jeweiligen Innenlebens bestehen. Dennoch bleibt da Vieles ungesagt, kapiert Alex nicht, dass Paul sie seit langem liebt, ist aber selbst verletzt, als Ratte sich in eine Mitschülerin verliebt, die sie, Alex, für völlig unter dem Niveau der Drei hält. Dann kommt auch noch ein neuer Lehrer, ein junger Referendar (Camill Jammal), und die Sache wird kompliziert.

Der Referendar will Johnny genannt werden, er will alles anders machen, die Jugendlichen zu eigenem Denken erziehen, doch kommt er sich damit vor allem selbst großartig vor. Ihn umflort eine Aura aus gefährlicher Anbiederung und eitler Coolness. Er fährt mit der Klasse nach Auschwitz, im Gepäck Celans "Todesfuge".

Alex findet Johnny interessanter, als gut ist, bindet ihn in die Spiele ein. Parallel zum Wirrwarr junger Gefühle entspinnt sich eine Diskussion über den Holocaust und das Erinnern daran, berichten die Jugendlichen eindrücklich, von einer Livekamera aus dem Kontext gelöst, von dem, was sie sehen. Und ja, sie können das, sie sprechen wunderbar (Elisabeth Maslik, Lisbet Hampe). Dann laufen Spiel und Realität zusammen, und es gibt eine kleine Katastrophe: Alex krallt sich Paul und küsst ihn innig vor dem Galgen auf dem KZ-Gelände. Keineswegs aus Liebe, sondern aus einem Schlingern ihrer Gefühle heraus, die zu Johnny mitinbegriffen. Ein Foto des Kusses geht im Internet viral.

Paul verschwindet. Alex steht mit ihrer Ichbezogenheit allein da, die Freundschaft der Drei ist kaputt, Johnny versagt. Aber: Die jungen Leute, die das spielen, vermitteln mit ihrer Authentizität die profunde Hoffnung, dass sie aus dem, was sie vermurkst haben, viel gelernt haben. Fast glaubt man, das nächste Mal machen sie alles anders. Aber sie müssen ja beim Stück bleiben. Was gut ist.

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Quelle:
SZ vom 29.05.2021
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