Süddeutsche Zeitung

Theater:Bretter, die Labor bedeuten

Vor 40 Jahren hat Axel Tangerding das Meta Theater in Moosach gegründet. Mit seinen experimentellen Formen und Projekten entfaltet das Haus internationale Strahlkraft

Von Sabine Reithmaier

Axel Tangerding hat von Anfang an das theatrale Experiment mehr als jede konventionelle Aufführung interessiert. Aber bei aller Lust daran, unbekannte Territorien zu erschließen, hätte er sich das 40-jährige Bestehen seines Meta Theaters in Moosach (Landkreis Ebersberg) schon anders vorgestellt. Weniger virtuell, dafür mit mehr Publikum. Aber jammern mag der Theaterleiter nicht. Lieber als über die Absage des geplanten opulenten Programms mit internationalen Künstlern zu klagen - "vielleicht können wir nächstes Jahr den einen oder anderen Event nachholen" - erzählt er von theatralen Hybrid-Formaten und seinen Versuchen, Digitales mit Analogem zu verknüpfen. "Es ist auch eine Chance, wenn uns plötzlich Hamburger digital zuschauen können und sich mit dem lokalen Publikum vor Ort mischen." Bloß: "Wie kriege ich Empathie ins Internet rein?"

Das Theater als Labor und Werkstatt - das war die Gründungsidee des Meta Theaters gewesen. Tangerding hat Architektur studiert. Schon als er noch an der TU über neuen Wohnformen brütete, holte er, geprägt vom Geist der 68er, in ersten künstlerischen Aktionen Menschen von der Straße, um zu ermitteln, wie viel Platz ein Einzelner zum Leben braucht. Gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin, der Tänzerin Ulrike Döpfer, suchte er nach einem Theater der Veränderung, nach neuen Inhalten und körperlichen Ausdrucksformen. Zutiefst beeindruckt sind die beiden von der experimentierfreudigen Ellen Stewart, der Gründerin des New Yorker "La MaMa Experimental Theatre Club", die unbekannte Regisseure, Schauspieler oder Autoren einfach Ideen erproben lässt. Ihrem La MaMa-München-Ableger gehören Tangerding und Döpfer an. Doch beeinflussen lassen sie sich auch von Jerzy Grotowkis "Teater Laboratorium" in Breslau.

1977 beschließt der junge Architekt, in Moosach einen interdisziplinären Ort als Plattform für neue experimentelle Theaterformen zu bauen. Nicht in der Stadt, sondern ganz programmatisch auf dem Land entsteht ein luftiges Haus mit sieben offenen Halbebenen und großen Glasflächen, die die Stahlkonstruktion gliedern. Viel Holz, wenig Beton, ein Haus, das sich konzeptuell und ästhetisch aufs Bauhaus bezieht. "Flechtungen - Der Fall Partzifall" nennt sich die erste Produktion des "Werkhauses Moosach". Der Name erweist sich als zu sperrig für internationale Tourneen, weicht bald dem griffigeren Meta Theater.

Von Anfang an gelingt es Tangerding, große Namen nach Moosach zu locken. Er experimentiert mit eigenen Inszenierungen, holt Gastspiele, etabliert das Theater bald als Ort für Außergewöhnliches. Der Dialog der Kulturen ist noch kein Thema, als er bereits große interkulturelle Produktionen wie "Gilgamesch" und "Babylon" mit Laienschauspielern aus der assyrischen Gemeinde Augsburgs realisiert. Er schlägt Brücken zum japanischen Nô-Theater oder zu indischem Tempeltanz. Holt avantgardistische Musik aus dem arabischen Raum, setzt als Regisseur Wissenschaft visuell und emotional um wie in "Musicophilia", einem Stück, das auf Oliver Sacks Buch "Der einarmige Pianist" basiert. Ausgezeichnet mit dem Music-Theatre-Now-Award, tourt die Inszenierung jahrelang durch die Welt.

Was sich wie ein roter Faden durch die 40 Jahre zieht, ist Tangerdings Interesse am Austausch von östlicher und westlicher Theaterkunst. "Überhaupt das transnationale Arbeiten", sagt der 73-Jährige. "Kunst macht nicht vor nationalen Grenzen halt." Ein zweiter roter Faden ist sein sozialpolitisches Engagement, das sich beispielsweise 15 Jahre lang in interkulturellen Projekten mit "Gastarbeitern" der zweiten und dritten Generation ausdrückt.

Moosach hat 1500 Einwohner und keinen Bahnhof. Visionen allein reichen da nicht, um den Spagat zwischen freien Produktionen und Kooperationen dauerhaft auszubalancieren. Tangerding ist ein begnadeter Netzwerker. Davon erzählt auch die eben erschienene Publikation "40 Jahre Meta Theater - Retrospektive und Vision". Abonnenten des Magazins Theater der Zeit erhalten sie als Sonderbeilage im Dezemberheft, doch man kann sie auch im Buchhandel kaufen. Das Heft liefert einen ausgezeichneten Überblick über die Geschichte des Theaters, da die meisten Autoren, ob älter oder jünger, von ihren eigenen Erfahrungen im Meta Theater berichten. Und Dieter Dorn, der während seiner Intendantenzeit am Residenztheater mit Tangerding kooperierte, konstatiert sogar, dass aus der Saat, den die freie Szene mit wenig Geld auf den Acker streue, viel mehr wachse als in den großen Institutionen.

Vor zwei Jahren organisierte Tangerding in München ein Netzwerktreffen der freien Theaterszene (International Network for Contemporary Performing Arts), um Strategien für internationale Kulturarbeit zu entwickeln. 500 Theaterleute aus fast allen europäischen Ländern sowie Kanada, Australien und Asien folgten der Einladung. Auf seine Initiative hin gründete sich während der Tagung auch der europäische Dachverband der freien darstellenden Künste, inzwischen das Sprachrohr der Freien auf EU-Ebene. Heuer wurstle sich jeder noch so durch, mutmaßt Tangerding. "Die Krise wird uns erst in den nächsten zwei Jahren voll treffen." Gemeinsames Agieren und strategische Geschlossenheit seien wichtiger denn je. Bislang besäßen freie Künstler keine Sicherungssysteme, sie versänken während einer Krise in einem großen schwarzen Loch. "Soziale Nachhaltigkeit wäre ein wichtiges Ziel."

Was er die nächsten 40 Jahre plant? Tangerding lacht. Er habe tatsächlich noch einen blinden Fleck entdeckt, sagt er dann. Die Verschränkung von Performing Art und Architektur. Es sei an der Zeit, den kommerzialisierten öffentlichen Raum neu zu definieren. Jetzt freut er sich aber erst mal auf die sechs ergebnisoffenen Recherche-Projekte, die unter dem Dach des Meta Theaters bis Ostern 2021 laufen und es zwölf Künstlern dank Stipendien ermöglichen, ihre durch die Pandemie gefährdete berufliche Existenz zumindest ein wenig zu stabilisieren. Die Projekte sind ganz unterschiedlich. So erforscht etwa Lichtkünstlerin Judith Rautenberg die Beziehung von Licht, Bühnenraum und Mensch, während der Münchner Komponist Steffen Wick gemeinsam mit Nicole Kleine (Berlin) und Chantal Maquet (Hamburg) Echokammern ergründet. Und Schauspieler Florian Reinhold, besser bekannt als Zauberer Gaston Florin, sucht als Jacqueline D'Arc nach dem Lied der Lieder.

Eine Suche ohne Vorgaben, ohne Zeit- und Erfolgsdruck, sagt Tangerding, eine Rückkehr zur alten Laboridee seines Theaters. Ein Theaterabend müsse nicht entstehen, doch die Arbeitsergebnisse werden regelmäßig präsentiert, soweit möglich im Meta Theater, aber auch hybrid als Livestream. Es sei einfach wichtig, sich über den Alltag hinaus Gedanken zu machen, wie es in der Kunst weitergehen soll, findet Tangerding. Und eins ist klar: "Nur das Digitale ist keine Rettung für das Theater."

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Quelle:
SZ vom 03.12.2020
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