Jahrelang, ach was, jahrzehntelang galt der Umgang mit Nadel und Faden in der Kunst als reine Frauensache. Passte ja auch gut zum Klischee des strickenden und stickenden Heimchens am Herd. Dass auch arrivierte Künstlerinnen die Vielfalt der Materialien entdeckten – na wenn schon. Dass sie diese in diverseste künstlerische Dimensionen transformierten – vernachlässigt. Selbst die Bauhaus-Künstler überließen das textile Fach gern ihren weiblichen Pendants. Und – Gipfel eurozentristischen, kolonialen Denkens – indigene Herkunft galt auch gern als Ursache für das Interesse am Umgang mit Textilien.
Doch in jüngster Zeit hat sich ein Twist vollzogen. Nicht nur, dass immer häufiger auch männliche Vertreter der Kunst zu Stoff und Faden, Näh- und Stick- und Strickmethoden greifen. Zahlreiche Künstlerinnen wie Künstler verbinden die Materialität mit ganz verschiedenen inhaltlichen Ansätzen, schaffen Verbindungen zu Programmiersystemen und Algorithmen als Basis generativer Kunst. Andererseits werden auch Rückgriffe auf das Lochkartensystem genutzt, das letztlich auch bei einer der frühesten industrialisierten Handwerksbereiche, dem Weben, eine Rolle spielte. Und siehe da: Plötzlich keimt die Erkenntnis, dass Textilkünstlerinnen schon immer über den Rand ihres Stickrahmens hinausgeschaut haben.

Mit zweidimensionalen Gitterstrukturen und generativer Kunst beschäftigt sich Harm van den Dorpel seit 2019. Dabei erforscht der 49 Jahre alte niederländische Künstler gezielt die Arbeiten älterer Künstlerinnen wie Anni Albers, Charlotte Posenenske, Hanne Darboven und Vera Molnár oder – gleiche Generation wie van den Dorpel – Tauba Auerbach. Van den Dorpel verwendet Algorithmen, um seine Werke zu berechnen, in denen er der Ästhetik und der Methodik seiner Vorbilder nachspürt und sie auf eine neue Reise schickt. Einige dieser Berechnungen lässt er als digitale Animation ablaufen, die keinen Anfang und kein Ende besitzen, weil die Algorithmen und die KI dahinter ständig neue Formationen hervorbringen. Andere, diese prägen sein Werk, überträgt er mithilfe eines Plotters auf Papier. Plotter, dieses aus der Zeit gefallen zu scheinende Zeichengerät, das kreuz und quer über das Blatt saust, um hier einen Strich, dort einen Punkt zu zeichnen, erzeugen eine andere Anmutung als Drucker, die Bilder linear zu Papier bringen würden. Wozu das alles führt und wie das aussieht, zeigt die Ausstellung „Angles Morts“ in der Galerie Lohaus Sominksy, wo van den Dorpels Werke denen von Vera Molnár gegenübergestellt werden.
Harm van den Dorpel & Vera Molnár: Angles Morts, Galerie Lohaus Sominsky, Ottostraße 10, bis 2. November

Wie eng der Computer mit der Geschichte des Textils und insbesondere des Webens verbunden ist, zeigt die Ausstellung „Key Operators“ im Kunstverein. Obwohl die Mathematikerin Ada Lovelace schon Mitte des 19. Jahrhunderts das mathematische Potenzial der in automatisierten Jacquard-Webstühlen verwendeten Lochkarten erkannte und dieses binäre System auf einen Code aus Null und Eins übertrug, sah die Welt keinerlei Veranlassung, beide Bereiche gedanklich zu verschränken. Das Weben blieb als typisch weibliche Tätigkeit im Denken verankert, Zahlen, Codes und Programmiertechnik hingegen galten bis ins 21. Jahrhundert als typisch männliches Beschäftigungsfeld. Künstlerische Positionen, die den Brückschlag vollzogen, wurden isoliert betrachtet.
„Key Operators“ zeigt eine Fülle von Beispielen, wie Weben und Coding zum Mittel feministischer Geschichtsschreibung werden kann – wenn man die Verbindungen sehen will. Da dominieren vor allem zeitgenössische Arbeiten. Aber es gibt auch Verweise auf frühe Gedanken zum Thema wie auf die von Ada Lovelace sowie Beispiele aus den 1970er-Jahren wie die computerinspirierten Bildteppiche von Charlotte Johannesson oder deren digitale Computergrafiken aus den 1980er-Jahren.
Key Operators, Weben und Coding als Mittel feministischer Geschichtsschreibung, Kunstverein München, Hofgarten, bis 24. November

Eine andere, aber ebenfalls nicht unspannende Verbindung von Kunst und Codes stellt Tamara K.E. in ihrer Ausstellung „Ouch“ in der Galerie von Dietlinde Behncke her. Die Künstlerin, in Georgien geboren, hat in den Neunzigern an der Münchner Kunstakademie studiert und lebt heute in Düsseldorf, New York und Tiflis. Auch wenn sie vor allem durch ihre radikal gesellschaftskritischen Gemälde bekannt wurde – 2003 hat sie Georgien auf der Venedig-Biennale repräsentiert – hinter vielen Darstellungen stehen Codes und neue Technologien, und auch hier lassen sich Verweise auf das Weben und die Struktur dahinter erkennen.
Tamara K.E.: Ouch, Behncke Galerie, Ludwigstraße 7, bis 30. Oktober

Keine Web-, sondern eine Knüpftechnik, genauer Makramee, benutzte die früh verstorbene Künstlerin Maddy Arkesteyn in ihrem Werkkomplex „Brancusi’s Psychosis Goes Exotic“ von 2010, der zusammen mit Glasarbeiten von Ana Navas in der Galerie Sperling zu sehen ist. Ähnlich wie bei Constantin Brâncușis endloser Säule verknüpfte Arkesteyn in ihren Skulpturen geometrische Formen sowie Objekte und überführte das Ganze in raumgreifende Körperformen. Maddy Arkesteyn ging es primär um Kontrolle von Form und Bewegung sowie den Verlust ebendieser Kontrolle, wenn sich die Künstlerin beim endlosen Prozess des Knüpfens zu verlieren schien. Aber Elemente wie der Rollschuh oder das Skateboard rufen natürlich auch ein Schmunzeln hervor und deuten an, dass alles in Bewegung und zugleich standfest sein kann. Man muss nur Fuß und Faden drauf kriegen.
Maddy Arkesteyn & Ana Navas, Galerie Sperling, Regerplatz 9, bis 26. Oktober

Apropos Fuß und Faden: In die eigenartige, mit Nadel und Faden geschaffene Bildwelt des 1985 in Graz geborenen Künstlers Georg Haberler führt die Ausstellung „Kleiner Fuß im großen Schuh“ bei Jo van de Loo. Mensch und Tier scheinen sich hier in einem Zustand immerwährender Leichtigkeit zu befinden, turnen und tänzeln um Puschen, High-Heels und Stiefel herum. Gut, dass sie alle angenäht sind.
Georg Haberler: Kleiner Fuß im großen Schuh, Galerie Jo van de Loo, Theresienstraße 48, bis 25. Oktober