Terroranschlag:"Wir sind hier. Sie sind nicht allein"

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Beim Gedenken an die neun Opfer des rechtsextremen Anschlags am OEZ vor fünf Jahren rufen die Redner zum Kampf gegen Rassismus auf

Von Jakob Wetzel, München

Sie spreche nun zum ersten Mal, sagt Gisela Kollmann. "Es geht um meinen Enkel." Fünf Jahre sind vergangen, seit ein Mörder am Olympia-Einkaufszentrum in Moosach den 19-jährigen Guiliano Kollmann und acht weitere Menschen erschossen hat, aus rassistischen Motiven. Doch der Schmerz gehe nicht weg, sagt die Großmutter unter Tränen. "Der Verlust hat sich tief in meine Seele eingebrannt. Die Narben wollen nicht heilen. Ich hätte gerne mit meinem Kind getauscht."

Am Donnerstagnachmittag haben Angehörige, haben Bürger aus Moosach, haben die Stadt München und der Freistaat Bayern in mehreren Gedenkakten an die Ermordeten des 22. Juli 2016 erinnert. Vor dem McDonald's-Restaurant an der Hanauer Straße, in dem der Attentäter damals seine Bluttat begonnen hatte, hat die Stadt eine schwarze Bühne aufgebaut, unmittelbar neben dem im Jahr 2017 errichteten Denkmal für die Ermordeten. Der Täter hatte an diesem Ort acht Jugendliche und eine Frau ermordet und fünf weitere Menschen schwer verletzt, bevor er sich selbst erschoss. Nun, an diesem Nachmittag fünf Jahre später, ist an diesem Ort viel von Trauer die Rede, von Schmerz. Aber es werden auch Vorwürfe laut, es ist von Wut die Rede, von Angst und dem Gefühl, alleine gelassen worden zu sein.

Auf der Bühne steht nun ein Strauß weißer Lilien. Daneben, hinter dem Rednerpult, haben kurz nach 13 Uhr Oberbürgermeister Dieter Reiter und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gesprochen. Nun steht dort Gisela Kollmann. Sie hat Mühe, ihre Stimme zu halten. "Ich besuche nahezu täglich das Grab meines Enkels", erzählt sie. Die finanzielle Entschädigung, die sie erhalte, nutze sie, um Guiliano einen würdigen Ort zu schaffen. Immer wieder gehe sie auch in dessen Zimmer; bis heute könne sie nicht mit der U-Bahn fahren. Sie habe Angst vor lauten Geräuschen. Menschenansammlungen schnürten ihr den Hals zu. Als sie ihre Rede beendet, stehen Gäste auf und klatschen.

Der Anschlag habe die Stadt verändert, hatte Oberbürgermeister Reiter zuvor gesagt: Es sei ein Anschlag gewesen "auf das friedliche und vielfältige München". Doch die Stadt halte zusammen. Den Angehörigen versicherte er: "Wir sind hier. Sie sind nicht allein." Heute sei ein Tag des Gedenkens, so Reiter. Es sei aber auch ein Tag, an dem er die Münchnerinnen und Münchner bitte, Rassismus entschieden entgegenzutreten, jeden Tag. Man dürfe nicht vergessen, dass der Mörder nicht der einzige rechtsextreme Attentäter gewesen sei. Der Anschlag gehöre zur "blutigen Spur des rechten Terrors, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durch Deutschland gezogen hat und immer wieder auch München erreicht".

Vor zunehmendem rechten Terror hatte vor dem Gedenkakt auch das "Bayerische Bündnis für Toleranz" gewarnt, in dem sich viele Organisationen zusammengeschlossen haben. "Das war eine klar politisch motivierte Gewalttat von rechts", erklärte nun auch Ministerpräsident Markus Söder - eine Bewertung, die sich in den Behörden freilich erst 2018 durchgesetzt hatte. Zuvor war von einem Amoklauf die Rede gewesen. Es sei ihr ein Trost, dass die Tat inzwischen als rassistisch motiviert gelte, sagte später Kollmann.

Söder rief wie Reiter zum Kampf gegen Rassismus auf. Der Rechtsextremismus wachse wie ein Tumor, sagte er. "Ich dachte immer: Nie wieder, das ist nicht nur ein Motto, das ist ein Fakt." Doch dem sei nicht so. Die Gesellschaft müsse entschlossen gegen Rassismus einstehen. "Jeder, der in Bayern lebt, hat unseren Schutz verdient", so Söder. Die Tat werde niemals vergessen. Und auch wieder: "Sie sind nicht allein."

Am Denkmal standen Söder und Reiter später gemeinsam mit Landtagspräsidentin Ilse Aigner und Angehörigen zusammen; Söder ging kurz in die Knie.

Wenig später steht dort Christine Rapp. Sie sitzt im Bezirksausschuss Moosach. Sie sei vor fünf Jahren alleine durch das OEZ gelaufen, sagt sie. Einen ersten Toten habe sie damals zugedeckt, danach einem weiteren in die Augen gesehen: in ein ungläubiges Gesicht. Sie sehe diese Augen bis heute vor sich. Die Reden hätten ihr gefallen, so Rapp. Sie seien von Herzen gekommen.

Den Nachmittag über legen immer wieder Menschen Kränze vor dem Denkmal nieder, beten, singen, weinen.

Vor dem Jahrestag hatte es Diskussionen gegeben unter anderem darüber, wann der richtige Zeitpunkt sei, um hier zu gedenken. Um 13 Uhr kamen Repräsentanten wie Reiter, Söder und Aigner, wie der Vorsitzende des Zentralrats deutscher Sinti und Roma Romani Rose oder auch Erzbischof Reinhard Marx und der evangelische Stadtdekan Bernhard Liess ans Denkmal. Von 17 Uhr an, zur Tatzeit, hatte dann der Bezirksausschuss Moosach mit der Initiative "Wir alle sind Moosach" einen weiteren Gedenkakt organisiert, mit Gesängen, mit einem interreligiösen Friedensgebet und einer Schweigeminute.

Auch Sibel Leyla tritt auf die Bühne, die Mutter von Can Leyla, der am 22. Juli 2016 ermordet worden ist. Er wurde nur 14 Jahre alt. Sie habe früher in die Augen ihres Sohnes gesehen, erzählt Leyla, und dabei habe sie eine Angst gespürt, die sie sich nicht erklären habe können. Jetzt aber finde sie keine Ruhe. Denn der Grund für den Tod ihres Sohnes sei, dass der Staat untätig gewesen sei gegen gewalttätige und gewaltbereite Rechtsextremisten. Sie habe erleben müssen, wie die Umstände der Morde immer wieder ignoriert, verleugnet und vertuscht sowie mit falschen Worten als Amoklauf umschrieben worden seien, sagt sie. Dann kann sie nicht mehr. Ein Unterstützer springt ein, trägt ihre Rede weiter vor. Rechtsextreme Netzwerke seien nach wie vor aktiv, sie reichten bis in die Behörden und die Politik, sagt er. Die Anschläge von Halle, von Hanau, von München, sie hätten alle Parallelen. Es werde zu wenig dagegen getan.

Am Ende steht die Anwältin Claudia Neher, die mehrere Münchner Opferfamilien vertritt, hinter dem Rednerpult. Sie wirft mehreren Politikern Versäumnisse vor, sie fordert Aufklärung und eine ehrliche Erinnerungskultur. Zuerst aber bittet sie weitere Angehörige nach oben. Diese sprechen zum Teil auf Türkisch, mit Übersetzung. Etwa Haci Dağ, der Ehemann von Sevda Dağ. Er habe sie, seine Frau, nie vergessen, ihr Gesicht, ihren Geruch, sagt er. "Auch wenn so viele Jahre vergangen sind, ich liebe Dich wie am ersten Tag." Sevda Dağ war 45 Jahre alt, als der Attentäter sie vor fünf Jahren ermordet hat.

Auch Politiker kommen noch zu Wort, etwa Marian Offman, einst Münchner Stadtrat der CSU, dann der SPD, jetzt Beauftragter Münchens für interreligiösen Dialog. Er habe den Großteil seiner Familie im Holocaust verloren, sagt Offman. Vieles, was er an diesem Nachmittag gehört habe, erinnere ihn an seine eigene Jugend. Das Vor-Gräbern-Stehen, ohne zu wissen was tun. Das Schreien, vor Leid, vor Wut. "Ich verstehe das." Warum habe man sich so schwer damit getan, zuzugeben, dass es ein Mord eines Nazis war, fragt Offman. "Warum hat man nicht dort gesucht, wo zu suchen war?", fragt Offman. Nun müssten alle zusammenhalten: Muslime, Juden, Christen, alle. "Nur wenn jeder für jeden aufsteht, können wir verhindern, dass so etwas wieder passiert."

Nach Moosach sind am Donnerstag auch Angehörige der Opfer von Hanau gekommen. Dort hatte im Februar 2020 ein rechtsextremer Mörder erst neun Menschen ermordet, so wie in Moosach aus rassistischen Motiven. Danach tötete er erst seine Mutter dann sich selbst. Die Hanauer verlasen am Donnerstag gemeinsam mit allen, die zum Denkmal gekommen waren, die Namen der Ermordeten, derjenigen aus München sowie derjenigen aus Hanau, es ist eine lange Reihe. Selçuk Kılıç, Sabina S., Armela Segashi, Guiliano Josef Kollmann, Can Leyla, Dijamant Zabërgja, Sevda Dağ, Hüseyin Dayıcık und Janosch Roberto Rafael; Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin und Ferhat Unvar. "Diese Namen", sagen sie, "dürfen nie vergessen werden."

© SZ vom 23.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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