Die Taschentücher liegen griffbereit. Die wohl einzigen Papiertaschentücher, die der Prävention dienen. Das Polizeipräsidium und das Münchner Sicherheitsforum hatten die Idee dazu: eine Verpackung, auf der die wichtigsten Tipps zum Schutz vor Telefonbetrügern stehen und die alte Menschen sich griffbereit neben das Telefon legen können.
Wie wichtig diese und andere Vorbeugeaktionen sind – Plakatwerbung, Social-Media-Postings, Anzeigetafeln in U- und S-Bahn – zeigt sich dieser Tage auf dramatische Weise: Vor allem mit der Methode „Schockanruf“ setzen organisierte Banden betagte Münchnerinnen und Münchner derart unter Druck, dass diese oft bereit sind, ihr gesamtes Bargeld, Ersparnisse und Wertgegenstände in die Hände von ihnen unbekannten Abholern zu geben. Um damit vermeintlich Angehörige aus dem Gefängnis freizukaufen.
Fünf bis zehn derartige Versuche werden der Münchner Polizei momentan jeden Tag gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Jeden zweiten Tag gelingt den Tätern der Betrug. Bei Geldforderungen zwischen 20 000 und 200 000 Euro kommt da eine Riesensumme zusammen. Mehrere Millionen werden es am Ende dieses Jahres wohl sein, nachdem allein ein einziger Fall den Tätern schon eine Millionenbeute eingebracht hat. Ein Versuch bei einer 77-Jährigen aus dem Stadtteil Freimann scheiterte am Montag, bei einem mehr als 80 Jahre alten Mann aus Neuhausen gelang es den Anrufern am Dienstag dagegen, Geld und Wertgegenstände im Gesamtbetrag von weit mehr als 10 000 Euro zu erbeuten.
Den Ermittlern des Kommissariats 61 der Münchner Kriminalpolizei ist aufgefallen, dass mehrere Opfer den gleichen Nachnamen tragen. „Offenbar arbeiten die Täter sich gerade durch ein Telefonbuch aus München durch“, sagt Thomas Schedel, der Leiter des Kommissariats. Die Hoffnung der Telefon-Gangster ist es, auf die Namen älterer Menschen zu stoßen. Um dann – als angebliche Polizisten oder Staatsanwälte – diesen am Telefon mit Geschichten Angst zu machen wie der, dass die Tochter einen Menschen totgefahren habe.
Wenn der Versuch misslingt und das Opfer rechtzeitig die echte Polizei einschaltet, dann kann diese – wie am Montagabend in Freimann – allenfalls einen Abholer festnehmen. Im genannten Fall handelte es sich um einen 26-Jährigen aus Tschechien. Doch die Hintermänner und die Anrufer, die psychologisch äußerst versierten „Keiler“, agieren vom Ausland aus.
Hinter der Masche „falsche Polizeibeamte“ stecken mafiöse Banden aus der Türkei. Mehrmals ist es Münchner Ermittlern in Zusammenarbeit mit ihren türkischen Kollegen schon gelungen, solche Callcenter auszuheben. Danach brauchen die Täter immer einige Zeit, um sich neu zu organisieren.
Möglicherweise deshalb ging eine Bande, die vergangene Woche mit dieser Masche einen 80 Jahre alten Nymphenburger ausnehmen wollte, auch ungewöhnlich behäbig und aus Tätersicht dilettantisch vor. Zwischen dem ersten Anruf und dem Versuch, die Beute abzuholen, verstrichen fünf Tage. Zeit zum Nachdenken für das Opfer – und um die Polizei zu informieren. Die fasste am Samstag zwei junge Abholer türkischer Herkunft.
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Beim „Enkeltrickbetrug“ und beim zurzeit in München dominierenden „Schockanruf“ sind es „Familienclans, die in der Regel aus Polen heraus operieren“, wie ein Münchner Oberstaatsanwalt jüngst in einem Instagram-Video des bayerischen Innenministeriums berichtete.
Ob das auch auf die Strukturen hinter der aktuellen Schockanruf-Welle zutrifft, ließ Holger Schmidt, der stellvertretende Chef der Münchner Kriminalpolizei, am Mittwoch auf Nachfrage bewusst offen. Er könne da „momentan aus operativen Gründen nicht ins Detail gehen“. Schmidts dringender Rat an alle, die derartige dubiose Anrufe erhalten, bei denen es ums Ersparte geht: einfach auflegen – und lieber zum Papiertaschentuch greifen.