Ich glaub, ich drück noch mal die Schlummertaste, ist ja erst halb elf. Ach so, war gar nicht der Wecker, meine Agentur ruft an. Oh, naa, bitte keinen Videocall! Ich bring noch kein Wort raus und schau aus wie ... ja, wie frisch aus'm Bett halt, beziehungsweise frisch von meiner Couch, die während meiner mittlerweile allnächtlichen Lockdown-Sessions schon zum Bett umfunktioniert wurde, weil ich es meistens um halb fünf morgens vor Müdigkeit nicht mehr ins Schlafzimmer nebenan schaffe.
Gitarre spielen die ganze Nacht, hin und wieder mal die absurdesten Wälder von Youtube durchforsten und sich medial von teils sinnlosem und doch unterhaltsamem (also gar nicht mehr so sinnlosem) "Content" berieseln lassen. "Content", oder auch die "geteilte Lebenserfahrung anderer", die man aufsaugt, weil man selbst nicht mehr so viel erlebt derzeit.
Und um kreativ zu sein, Texte zu schreiben oder Gefühle in Musik zu übersetzen, braucht man Anreize, Erlebnisse und Geschichten, die man erzählen kann. Also was habe ich nun zu erzählen? Geschichten von meiner Couch? "Lockdown-Blues" oder "Da heid bleib I dahoam Walzer"? Ja, eben genau das, denn das ist es, was zur Zeit viele, wenn nicht die meisten erleben, jedenfalls die meisten Künstler. Jedoch sucht man sich nach einem gewissen Zwangsurlaub den positiven Stress, den man braucht, und fängt an, Dinge zu tun, die man entweder schon immer machen wollte, wie in meinem Fall an einem Online-Shop basteln oder mal wieder ein Legoraumschiff bauen, oder Sachen zu erledigen, die man schon immer liebend gern bis zum Sankt Nimmerleinstag aufgeschoben hatte, wie etwa mal eine halbwegs taugliche Steuererklärung abzugeben oder endlich den Pfand zum Edeka gegenüber zu bringen. Vom Pfand habe ich mich tatsächlich nur ungern getrennt, da die Bierkästen noch eine authentische Erinnerung an die zur Normalität gewordenen "Studiopartys" waren. Eine Normalität, die man jetzt, wenn sie wiederkommt, wahrscheinlich wie noch nie zu schätzen wissen wird.
Aber auch die aktuelle Zeit, so viele Bitternoten sie auch haben mag, wird man wahrscheinlich irgendwie vermissen, im egoistischen Sinne. So viel Ruhe zu haben, die Möglichkeit, mal abzuschalten und nachzudenken und zu sehen, dass es auch mal behutsamer funktionieren kann, ist selten. Man merkt, dass man das ins Positive ummünzen und nutzen sollte, um mit aller Kraft wieder in den hoffentlich bald zurückkehrenden Alltag zu ziehen.
Dann endlich wieder aufzutreten und seine Lieder zu spielen, wird sich wahrscheinlich erst mal kurz anfühlen wie "der erste Gig meines Lebens", aber Lampenfieber hatte ich so oder so schon immer, diesmal halt das ganze hoch zehn. Deswegen sitze ich weiter daheim auf meiner Terrasse (bei Regen auf der Couch), trink hin und wieder a Bierle in da Sun und klimper auf meiner Gitarre, packe alte Gedanken oder neue Sehnsüchte aus und verarbeite sie in Lieder, designe ein paar Shirts oder drehe ein paar Videos, und warte nicht erst, bis es wieder "losgeht", weil losgegangen ist es schon längst, halt nur anders als gewohnt.
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