Einmal im Urlaub, da hechtete Michael von Bressensdorf unten ohne auf einer Düne Käfern hinterher. Weil er sie mit der bloßen Hand nicht zu fassen bekam, funktionierte er das Netz in seiner Badehose kurzerhand zum Kescher um. "Zum Glück hat das nur meine Frau gesehen", erzählt er beim Käfer-Stammtisch - oder wie es offiziell heißt: Arbeitstreffen interessierter Coleopterologen an der Zoologischen Staatssammlung München (ZSM). Dass es einmal soweit kommt, hätte er sich vier Jahre zuvor kaum träumen lassen. Damals kam er zum Tag der offenen Tür zur ZSM - und begann ein neues Hobby.
Dass sie keine Profis sind, betonen die Teilnehmer, die sich alle vier Wochen treffen, immer wieder. Auch wenn es Stammtisch heißt: Mit Wirtshaus und Bier hat das nichts zu tun. An Tischen mit Mikroskopen und vor Regalreihen mit Kästen voll präparierter Käfer fachsimpeln sie, zu welcher Art das grüne Exemplar vor ihnen gehört, legen Datenbanken über Funde am Computer an und tauschen Fachliteratur aus.
Was auffällt: alles Männer, fast alle mit grauen Haaren. Mit 55 Jahren ist von Bressensdorf beinahe der Jüngste unter den gut 15 Teilnehmern. "Wir haben einen, der ist 24", sagt Hans Mühle, selbst 72 Jahre alt und Experte für Prachtkäfer. "Im Grunde sind wir graue Männer." Nachwuchsmangel bei Artenbestimmern, sogenannten Taxonomen, ist schon länger ein Problem - auch auf professioneller Ebene.
Der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland etwa spricht von einer "Krise der Taxonomie": "Die Ansprüche an einen Taxonomen, der den modernen Erfordernissen gerecht wird, sind hoch, die Ausbildungsmöglichkeiten an Hochschulen lassen aber meist zu wünschen übrig", heißt es auf der Homepage des Verbands. "Die Mehrheit der derzeit ausgebildeten Biologen hat keine gehobenen Anforderungen genügende Artenkenntnisse mehr." Exakte Bestimmung sei aber auch wirtschaftlich wichtig, etwa bei einer invasiven Art, die in Deutschland nicht heimisch ist: "Je frühzeitiger diese erkannt und dann bekämpft werden kann, desto kostengünstiger fallen die Maßnahmen aus."
Auch Steffen Pauls, Leiter der Sektion Entomologie III am Senckenberg-Forschungsinstitut Frankfurt, sagt, an Universitäten habe die Bestimmung von Arten während des Studiums an Bedeutung verloren. Und Geld in der Forschung werde eher für anderes ausgegeben. Dabei seien viele Arten noch unbekannt, gerade bei Bodenorganismen. Für einzelne Gruppen gebe es weltweit nur eine Handvoll Experten. Der Grund für den Mangel sei die demografische Entwicklung: "Da stirbt uns große Expertise weg", sagt Pauls. Er sieht aber auch eine mögliche Trendwende: "Bis vor wenigen Jahren mussten wir in Museen noch erklären, was Biodiversität ist." Das sei heute anders.
Spätestens die Krefelder Studie zum Insektensterben habe Politik und Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert. So heißt es in einem Antrag der Bundestagsfraktionen von Union und SPD aus dem Jahr 2017, Taxonomie sei mehr als nur die Grundlage des Artenschutzes. "Sie ist die grundlegende Wissenschaft für weite Bereiche der Lebenswissenschaften, von der Biodiversitätsforschung über die Wirkstoffforschung bis zur Infektionsmedizin."
Es sei aber schwierig, Forschungsmittel einzuwerben. Die Zahl entsprechender Lehrstühle habe deutlich abgenommen. Forschung sei immer mehr an außeruniversitäre Einrichtungen ausgelagert worden und somit von der Ausbildung getrennt. "Diesem Trend muss entgegengewirkt werden." Und das Bundesforschungsministerium erklärt, die Forschung zur Biodiversität erhalte noch stärkere Priorität im Förderportfolio. Um Auswirkungen auf Ökosysteme abzuschätzen, müssten der Zustand und die Veränderungen von biologischer Vielfalt erfasst werden. "Gerade hier wird die Taxonomie wesentliche Erkenntnisse liefern können und demzufolge in entsprechende Förderprojekte auch zukünftig einbezogen werden." Wichtig seien zudem Netzwerke zwischen den relevanten Institutionen wie Hochschulen, Forschungsmuseen und Staatssammlungen.
Dabei sind es vor allem die Amateure, die ihr Fachwissen beisteuern. "Kein Staat bezahlt einen dafür, dass man den ganzen Tag Käfer sammelt", sagt Michael von Bressensdorf vom Münchner Käfer-Stammtisch. Sein Kollege Mühle fahre für seine Leidenschaft jedes Jahr an die 40 000 Kilometer. In zig Ländern sei der ehemalige Förster schon unterwegs gewesen. Prachtkäfer aus aller Welt werden ihm zum Bestimmen geschickt.
Aber die Hürden für Einsteiger seien hoch, sagt Mühle: "Seit den Achtzigerjahren brauchen wir eine Genehmigung, dass wir sammeln dürfen." Je nach Schutzstatus des Gebiets seien andere Behörden zuständig. "Doch wenn man sich noch keinen Namen gemacht hat, bekommt man oft gar keine Antwort." Das gelte auch bei Ein- und Ausfuhren von Käfern.
Stachelkäferexperte Herbert Fuchs meint, ein weiteres Problem sei der verloren gegangene Bezug zur Natur. In den Schulen sei das kein Thema mehr. Gerade in der Stadt ekelten sich die Menschen eher vor Käfern, vor allem Erwachsene. "Wir müssen den Leuten die Scheu nehmen." Hinzu kommen die Kosten: Insektenschränke, Bestimmungsbücher, ein gutes Mikroskop - da kommen schnell einige Tausend Euro zusammen. "Dafür sind die Käfer umsonst", sagt Bressensdorf.
Wenn der gelernte IT-ler vom Käfersammeln spricht, kommt er ins Schwärmen: "Es ist faszinierend, dass man was mit der wahren Natur zu tun hat." Beim Blick durch ein Mikroskop sehe man plötzlich Haare an der Käferstirn. "Du schaust da rein und bist in einer anderen Welt." 6000 Käfer hat er inzwischen zuhause. Anfangs brauchte er zum Präparieren zehn Minuten pro Stück. Inzwischen schafft er 20 in der Stunde. Sein Ziel: "Dass man irgendwann mal Experte ist und andere einen fragen."