Tausende Münchner ohne Krankenversicherung:Von der Operation in den Ruin

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Seit April dieses Jahres besteht die Pflicht zur Rückkehr in die gesetzliche Krankenkasse. Trotzdem leben noch immer Tausende Münchner ohne Krankenversicherung.

Marc Widmann

Bei Erkältungen ist Reinhard P. nie zum Arzt gegangen. Auch nicht wegen seiner Diabetes. Die Arznei dafür bekam er von einem befreundeten Apotheker - ohne Rezept. Doch dann wurden seine Füße plötzlich schwarz und Reinhard P. musste für sieben Monate in die Poliklinik an der Pettenkoferstraße, wo ihn gleich ein doppelter Schock erwartete: Erst amputierten ihm die Ärzte zwei Zehen. Dann stellte ihm das Krankenhaus eine Rechnung über 33.000 Euro. "Mein Chef hat mich nie bei der Versicherung angemeldet", sagt der Münchner, "das hab' ich einfach nicht gewusst."

Ohne Krankenversicherung hat Reinhard P. mittlerweile 50.000 Euro Schulden. (Foto: Foto: Andreas Heddergott)

Wenn der 63-Jährige heute durch die Stadt geht, humpelt er und sein Blick wirkt müde. Vor zwei Jahren musste er ein zweites Mal ins Krankenhaus, wegen einer offenen Wunde am Fuß, die nicht mehr verheilen wollte. Seine Schulden bei den Ärzten sind weiter gewachsen, auf 50.000 Euro. "Ich weiß nicht, wie ich das jemals zahlen soll", sagt der Mann mit dem ergrauten Schnauzbart. "Wenn ich mir eine Pistole an den Kopf halte, ist es vielleicht am besten."

Nichtversicherte müssen sich ab 1. April versichern

Natürlich hat Reinhard P. damals versucht, wieder in eine gesetzliche Krankenkasse zu kommen. Aber alle haben ihn abgelehnt. "Wer einmal rausgeflogen ist, hatte nie mehr eine Chance", sagt Klaus Hofmeister, Leiter der städtischen Schuldnerberatung. Vergleichbare Fälle erlebt er häufig: "Da geht es wirklich um Haut und Haare."

Nun hat sich die Türe für die Nichtversicherten doch noch geöffnet. Die Regelung war ein Kernstück der Gesundheitsreform der großen Koalition, am 1. April trat sie in Kraft: Alle Menschen ohne Krankenversicherung, die früher in einer gesetzlichen Kasse waren, müssen sich wieder versichern. Deren letzte Krankenkasse ist gesetzlich verpflichtet, sie wieder aufzunehmen.

Ehemals Privatversicherte können sich seit 1. Juli freiwillig im sogenannten Standardtarif absichern. Die Pflicht zur Mitgliedschaft beginnt für sie erst im Januar 2009. Etwa 300.000 Betroffene bundesweit erwartete die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Doch bislang meldete sich nur ein Bruchteil - auch in München.

Auslandsrückkehrer und Ehefrauen kommen zurück

Bei der AOK-Direktion versuchten die Experten, die Schätzungen der Gesundheitsministerin auf München herunterzurechnen und kamen auf 3000 Rückkehrer. "Wir haben gedacht, dass eine stattliche Zahl von Mitbürgern an unsere Türen klopfen wird", sagt Walter Kett, Assistent der Direktionsleitung, "aber dem war nicht so."

Weniger als 400 Münchner meldeten sich bisher. "Das ist ein sehr, sehr verhaltener Zulauf, der uns irritiert", sagt Kett. Auch zur Barmer Ersatzkasse sind in München "nur etwa 100 Versicherte zurückgekommen", sagt Sprecherin Stefanie Meyer-Maricevic, "das waren überwiegend junge Leute."

Es meldeten sich Auslandsrückkehrer, die nach ihrer Zeit fern der Heimat nicht mehr ins gesetzliche System aufgenommen wurden. Ehefrauen, die sich nach ihrer Scheidung nicht rechtzeitig um eine eigene Versicherung gekümmert hatten. Und viele Selbständige, die irgendwann ihre Beiträge nicht mehr gezahlt hatten.

Da ist zum Beispiel der Geschäftsführer eines Münchner Zahntechnik-Labors. Vor zwei Jahren brachen seine Umsätze dramatisch ein. Er wollte seine einzige Mitarbeiterin nicht entlassen - also sparte der Mann am letzten Posten, den er noch drücken konnte: seiner Krankenversicherung. Das Medikament für sein krankes Herz kaufte er nun selbst, ein Apotheker überließ es ihm zum Einkaufspreis. Eineinhalb Jahre lief alles gut. Der 45-Jährige nahm die Arznei einfach immer weiter, ließ die Dosierung nie überprüfen.

Dann kollabierte seine Niere. Das Krankenhausschickte ihm nach der Behandlung eine Rechnung über 7000 Euro - die Familie konnte gerade noch aushelfen. Doch jetzt musste der Zahntechniker regelmäßig zur Dialyse, für mehrere tausend Euro im Monat. Auch ihn lehnten alle Kassen Anfang des Jahres noch ab. Die Neuregelung kam für ihn in höchster finanzieller Not.

Abwarten kann für böse Überraschung sorgen

Weshalb sich trotz der existenzbedrohenden Risiken nur wenige bei den Kassen melden, darüber gibt es nur Spekulationen. "Unsere Vermutung ist, dass manch einer das noch nicht erkannt hat und auch die Pflicht noch nicht richtig deutet", sagt Heidemarie Krause-Böhm, Versicherungsexpertin der Verbraucherzentrale Bayern. "Viele denken wohl: Ich bin ja ganz gesund, die Versicherung ist mir jetzt zu teuer." Doch gerade diese Haltung könnte für die Betroffenen mit einer bösen Überraschung enden. Vor einer "tickenden Zeitbombe" warnt sogar AOK-Mann Kett.

Denn die gesetzlichen Kassen sind verpflichtet, künftig alle Beiträge rückwirkend zum 1. April einzufordern. Ausnahmen gibt es nur im Sonderfall. Wer sich erst im August anmeldet, muss also vier Monate nachzahlen. So können sich schnell beachtliche Summen auftürmen: Bei mindestens 120 Euro liegt der Monatsbeitrag für Menschen mit geringem Einkommen.

Ulrike Mascher, Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK, spricht von "einer ganz heterogenen Gruppe, die schwierig zu erreichen ist". Bislang verkündeten die Krankenkassen die Möglichkeit zur Rückkehr vor allem in ihren Broschüren und Zeitschriften - doch Versicherungslose lesen diese wohl eher selten. Wie viele Experten fragt sich aber auch Mascher, ob die Zahl der Betroffenen mit bundesweit 300000 nicht "vielleicht zu hoch eingeschätzt wird".

Blind ohne Versicherung

Die neuesten konkreten Zahlen für Deutschland und Bayern stammen aus dem Jahr 2003. Damals zählten Statistiker in der Mikrozensus-Erhebung bundesweit 188000, im Freistaat 31 000 Menschen ohne Krankenversicherung. Doch sie befragten weder Obdachlose noch illegale Einwanderer, die häufig nicht versichert sind. "Die Zahl taugt nichts", heißt es daher im Statistischen Landesamt, "die muss deutlich höher sein."

Das kann auch Reinhard P. bestätigen. "Ich kenne sogar einen Rechtsanwalt, der nicht versichert ist", sagt er. Anfang des Jahres beantragte der Münchner Hartz IV, seither zahlt die Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung für seine Versicherung. "Wie die Mitgliedskarte mit der Post gekommen ist, hab' ich aufgeatmet", sagt er. Nach sieben Jahren ohne Versicherung.

Die neue Karte hat ihm wohl schon das Augenlicht gerettet. Vor acht Wochen diagnostizierten die Ärzte bei ihm den Grauen Star. Sie operierten sofort - und diesmal schickten sie ihm anschließend keine Rechnung. "Wenn ich heute noch nicht versichert wäre", sagt der Münchner, "würde ich jetzt blind herumlaufen." Dann geht er davon, langsam und mit humpelndem Gang.

© SZ vom 09.08.07 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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