Süddeutsche Zeitung

Tattoos in München:Kunst, die unter die Haut geht

Monster für Machos, Delphine für Damen: Der Münchner "Corpsepainter" Julian Siebert ist ein vielfach preisgekrönter Tattoo-Künstler. Ein Besuch.

W. Görl

Die Kreatur, an der Julian Siebert gerade arbeitet, sieht aus, als sei sie einem Albtraum entsprungen: eine alles Böse der Welt verkörpernde Fratze, die Zunge reptilienhaft übers Kinn züngelnd, nadelspitze Eckzähne, tote Augen, ein Rohr, das dem Schädel entwächst, Raubvogelkrallen, die die Haut durchdringen, Falten, Blutgerinsel. Dieses Monster wird David so leicht nicht wieder los, es ist, könnte man sagen, einer seiner künftigen Lebensgefährten.

Die furchterregende Visage ist ein Tattoo. Eines, das an Davids Oberarm prangt. Aber das ist noch nicht alles: Unterhalb der Fratze zeichnen sich die Konturen weiterer Schreckensgestalten ab: eine düstere Frauensperson, die einen Knochenmann mit Blut tränkt. Noch sind nur die Linien sichtbar. In der folgenden Stunde wird Siebert die Szene kolorieren. Eine Prozedur, die buchstäblich unter die Haut geht.

Spätnachmittag im Tattoo-Studio Subcutan an der Ecke Balan-/Orleansstraße. Aus dem Nebenraum tönen Heavy-Metal-Klänge, das Interieur ist eine Mixtur aus Horrorladen und Zahnarztpraxis. An der Wand diverse Posters, die raffiniert mit Schönheit und Tod ihr Spiel treiben, ein Schwarm Fledermäuse ziert eine Stellwand. Mittendrin ein alter Zahnarztstuhl.

Und dann stehen da noch etliche Trophäen. Siegespreise, die Siebert bei Tattoo-Messen gewonnen hat, darunter der erste Platz in der Kategorie "Best Colour" und "Best Black'n'Grey" bei der Tattoo Convention 2008 in München oder die Auszeichnung "Best of Show" von der Frankfurter Convention 2009, der bedeutendsten ihrer Art in Deutschland. Siebert, der in Myspace und bei den Lokalisten unter den Nicknamen "Corpsepainter" firmiert, macht nicht viel Aufhebens um die Siegestrophäen.

Er erwähnt sie eher beiläufig; so, als sei es ganz normal, dass einer, der im März 2005 sein erstes Tattoo gestochen hat, bereits vier Jahre später mit Preisen überhäuft wird. Der Szene freilich sind Sieberts Künste nicht verborgen geblieben. Bis Ende des Jahres ist er ausgebucht, Kfz-Mechaniker zählen ebenso zu seinen Kunden wie Anwälte oder Herzchirurgen. Wer aber ein Hakenkreuz wünschte, flöge sofort raus.

Schon in prähistorischen Zeiten haben Menschen ihren Körper tätowiert, sei es aus rituellen Gründen, sei es, um Feinde zu erschrecken oder nur um der Schönheit willen. Auch "Ötzi", der vor gut 5000 Jahren in den Ötztaler Alpen sein Leben ließ, hatte Tätowierungen auf dem Leib. Noch in jüngerer Zeit galten Tattoos als Signatur von Matrosen, Sträflingen oder Zuhältern, aber das hat sich geändert.

Die Bilder auf der Haut avancierten Ende der achtziger Jahre zu Zeichen, mit denen subkulturell gestimmte Jugendliche sich abgrenzten von der bürgerlichen Welt. Bald vereinnahmte - wie so oft - der Mainstream die subversiven Chiffren. Tattoos wurden Mode, deren augenfälligste Erscheinungsform das mittlerweile verrufene Arschgeweih ist.

Aber ein allseits tolerierter Körperschmuck ist die Tätowierung offenbar noch nicht. Der 24-jährige David legt jedenfalls Wert darauf, dass sein Arbeitgeber nichts davon merkt. Die finsteren Wesen, die Julian Siebert in seine Haut sticht, bleiben unsichtbar, solange David Hemd trägt. "Ich will niemanden provozieren", sagt er. Auch beim Chef will er sich keinen Schiefer einziehen. Deshalb bleibt sein Nachname unerwähnt.

Zweieinhalb Jahre Bedenkzeit hat er gebraucht, bis der Entschluss gereift war. Die Monster, die seinen Oberarm zieren, sind Geschöpfe des britischen Comic-Künstlers Simon Bisley. Doch Siebert hat sie keineswegs originalgetreu abgekupfert, vielmehr liefert er eine Interpretation der Vorlage. David sammelt Comics, vor allem die Kreaturen Bisleys lassen ihn nicht los.

Und jetzt schon gar nicht. Unter Schmerzen sind sie auf seine Haut gelangt, die Haut eines Steuerfachangestellten. Das Steuerwesen mag dunkle Seiten haben, aber dies überrascht jetzt doch. Warum die Dämonen? "Nicht alles ist Sonnenschein", sagt David. "Ich mag Horrorfilme und harte Musik." Das klingt nach einem schwer morbiden Lebensgefühl. Dennoch sagt er: "Ich bin ein lebensfroher Mensch."

Lebensfreude hin, Todessehnsucht her - David musst jetzt stillhalten. Mit einem Folienstift zeichnet Siebert den nächsten Bildabschnitt auf die Haut. Das ist in wenigen Minuten erledigt, Sieberts Hand zieht die Striche mit traumwandlerischer Sicherheit. "Ich zeichne, seit ich denken kann", sagt er. Ist er mit Skizze fertig, spannt er eine Folie über den Arm, auf der die vorgezeichneten Linien haften bleiben. Damit hat er ein Abbild der Proportionen, das ihm als Vorlage für seine Entwürfe dient.

In der Nacht, oft bis vier Uhr morgens, zeichnet er das Bild, das er später auf die Haut überträgt. Einfach nur nach Schema F zu arbeiten, widerspricht seiner Berufsehre. Siebert gestaltet seine Entwürfe selbst. Dabei muss er die Formen des Körpers berücksichtigen, etwa um zu vermeiden, dass das Kunstwerk verzerrt wird, wenn sein Träger den Muskel spannt. "Ein Tattoo muss an die Anatomie angepasst sein."

Anders als sein Kunde David verbirgt Siebert seinen Hang zu dämonischen Gestalten nicht im geringsten. Im Gegenteil: Sein Körper ist übersät mit Tattoos, düsteren wie knallbunten. Siebert ist ein wandelndes Bilderbuch, um seinen Hals schmiegt sich die Inschrift: "Laugh now, cry later." Lache jetzt, weine später. Eigentlich ein lebensbejahendes Motto, eine Art "Pflücke den Tag". Wie passt das zu den Monstern? Vielleicht lebt er die inneren Widersprüche, die in jedermann ihr Wesen treiben, nur besonders intensiv aus. Er sagt ja auch: "Das Düstere, das ist einfach in mir drin."

Soeben hat er kleine Kunststoff-Käppchen mit einer japanischen Spezial-Tusche gefüllt. Schwarz, rot, orange, gelb. David liegt mittlerweile im Zahnarztstuhl, die Härchen auf seiner Haut hat Siebert mit einem Einmal-Rasierer entfernt. Der Spulenmotor der Tattoomaschine klingt wie das Brummen einer panischen Fleischfliege, der Meister taucht die Spitze, auf der sich elf Nadeln befinden, in die Farbe.

Siebert zieht breite Linien, erstaunlich schnell füllt sich das Gesicht der unheimlichen Frau mit Farbe, Schattierungen und physiognomischen Details. Immer wieder wischt er die überschüssige Tusche weg, während David bemüht ist, den Schmerz zu verbergen. "Es muss wehtun, dann ist man noch mehr stolz darauf." Er wird noch einige schmerzhafte Sitzungen - 100 Euro kostet die Stunde - ertragen müssen, bis das Gesamtwerk vollendet ist.

Im übrigen ist es nicht so, dass Sieberts Kunden ausschließlich Horrormotive wünschten. Frauen bevorzugen Liebliches, etwa Comics, Delphine oder Rosen. Den Namen des Geliebten auf den Körper platzieren, hält Siebert für wenig ratsam. Im Notfall wird man den Lover leichter los als das Tattoo. Zu derlei Schwärmereien neigen seine "düsteren Kunden" übrigens selten: "Die haben eine realistische Weltanschauung. Die wissen, was sie sind und wo sie stehen."

Julian Siebert und viele seiner Kollegen sind vom 1. bis 3. Mai auf der Tattoo-Convention in der Kultfabrik (Tonhalle) zu sehen. Freitag, 16-24 Uhr, Samstag, 12-24 Uhr, Sonntag 12-18 Uhr.

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Quelle:
SZ vom 29.04.2009/wib
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