Bitte alles wieder so hinterlassen, wie es vorgefunden wurde. Bitte auch keine Stecker ziehen." So steht es gleich rechts neben dem Eingang auf einem blaugrünen Zettel. Ja, bitte keine Stecker ziehen. Denn - auch wenn man es Stefan Noelle gar nicht anmerkt, weil der 53-Jährige eine Ruhe ausstrahlt, die schon recht beneidenswert ist - mit der Technik hat er es nicht so. Sagt er zumindest, kniet sich aber im Studio Ackermann auf den Boden und versucht, die Lichtregler in einem kleinen Kästchen an der Wand so zu drehen, dass die Scheinwerfer den kleinen Raum in der Kreativ-Garage in ein schönes Licht tauchen. Ein bisschen drehen, nach links, nach rechts. Da mehr rot, dort mehr blau. Noelle macht das gut. Aber er kennt ja schließlich auch jede Ritze, jede Delle in der Wand. Der Raum ist, wenn man so will, sein musikalisches Wohnzimmer. Denn hier, neben der Tiefgarage des Häuserblocks am Rosa-Aschenbrenner-Bogen, wird Jazz gespielt. Regelmäßig einmal am zweiten Dienstag im Monat, von Oktober bis April und mit erlesenen Künstlern. Sie sind dann zu Gast bei Stefan Noelle.
"Be my guest" heißt die Jazz-Reihe. Der Musiker, der seit 2006 in der Siedlung am Ackermannbogen wohnt, hat sie ins Leben gerufen, weil ihn die Leiterin des Nachbarschaftstreffs gefragt hat, ob er für das Quartier nicht "etwas Musikalisches" machen könne. Das war irgendwann 2012. Klar, Noelle hat mal bei einer Stadtteilwoche gespielt, man kannte sich als Nachbar von vielen miteinander verbrachten Sommerabenden auf der großen Wiese. Aber irgendwie muss es den Menschen, die Noelle kannten, klar gewesen sein, dass dieser Mann etwas auf den Weg bringen, Musik ins Viertel holen könnte. Gefragt, getan. Der Musiker hat sich den Raum angesehen. Und vielleicht mögen in diesem Augenblick schon in seinem Kopf Ideen für ein exquisites Jazzpodium entstanden sein. Denn Noelle sagte zu. Mit ein paar Wünschen: das dort stehende Klavier nutzen zu können und den Raum ein bisschen zu verändern. Mit gutem Licht, ein wenig Technik und einem schwarzen Vorhang, der die weißen Betonwände verdeckt.
Der Familienvater, der ohne Schiebermütze nur ungern aus dem Haus geht, zieht sofort jenen schwarzen Vorhang über die kalte Wand des Studios, als ob er den Raum sofort, wenn er ihn betritt, irgendwie "spielfertig" machen wollte. Ohne diesen Vorhang, sagt er und lächelt, gehe gar nichts. Stimmt. Denn plötzlich sieht der Raum in blaurotem Licht gleich aus wie eine einzige, kleine Bühne, auf der 70 bis 80 Zuhörer und die Musiker Platz haben. Im Oktober 2013 ist es dann soweit. Das erste Konzert, das Noelle im Auftrag des Ackermannbogen-Vereins organisiert, findet statt. An diesen Tag erinnert sich Stefan Noelle noch ganz genau. An seine Gefühle, seine Gedanken. Denn am Mittag seien von 30 Abos erst 15 verkauft gewesen. "Alle Arbeit komplett umsonst", denkt sich Noelle damals. Ist enttäuscht. Doch dann stehen 42 Leute an der Abendkasse. Das Konzert wird ein großer Erfolg. "Von da an lief es", sagt er, hält inne und holt die Stimmung jenes Abends im Geiste wohl noch einmal zurück.
Gerade läuft die Reihe "Be my guest" in der fünften Spielzeit. Die Zuhörer und mittlerweile das Stammpublikum, das aus ganz München kommt oder sogar aus der Region, schätzen das atmosphärische Format. Das hat mit der Liebe zu tun, mit der Noelle die Programme zusammenstellt, immer unter einem besonderen Motto. Einmal präsentieren sich nur Pianisten oder Saxofonisten. Mal treffen sich Jung und Alt, es kommen Duos oder in der laufenden Saison Sänger. Es sind bekannte Musiker wie Bernd Lhotzky (Piano), Till Martin (Saxofon), Joe Kienemann (Piano) oder Jenny Evans (Vocals) oder neue, junge Talente. Und Schlagzeuger und Sänger Noelle - selbst bekannt geworden durch sein Duo Unsere Lieblinge mit Alex Haas (Bass) - nutzt seine Kontakte. "Die meisten Musiker", freut sich der Gründer der Reihe, "kenne ich persönlich, und sie kommen gerne." Das mag aber auch daran liegen, dass Noelle das Programm gezielt und sehr subtil gestaltet - und auch ein Perfektionist ist. "Das bin ich, ganz klar", sagt er. "Ich glaube schon, dass es diese Reihe deswegen noch gibt, weil ich mich so darum kümmere." Nur deshalb schafft er es, die Musiker zu bezahlen und die Raummiete zu erwirtschaften. Vielleicht kann man den 53-jährigen Musiker deswegen getrost auch einen "Menschenfänger" nennen. Ganz im positiven Sinne: Er bringt Menschen zusammen. Lässt sie gemeinsam wunderbar musikalische Momente erfahren. Ohne Budget, ohne große Hilfe. Noelle organisiert alles allein, druckt Flyer, kauft Getränke und kehrt den Eingang, wenn es sein muss.
Es sind die besonderen Momente im Studio Ackermann, die alle miteinander vereinen: Musiker und Zuhörer. Weil sich beide nah sind. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn im kleinen Raum sitzt man sehr dicht beieinander. Wenn Noelle Schlagzeug spielt, ist der Zuhörer nur eine Ellenbogenlänge entfernt, schaut ihm direkt auf die Snare Drum. Genau diese intime Konzertatmosphäre mache die Reihe auch aus. "So etwas gibt es in München kaum", sagt er.
Man ist also dicht dran, wenn man bei Noelle zu Gast ist. Das gilt auch für seine Singer- und Songwriter-Reihe "Das Lied zum Sonntag" im Turmstüberl im Valentin-Karlstadt-Musäum. Was durchaus den Rückschluss zulässt, dass er generell das Leise und Feine liebt. Formate, in denen im musikalischen Sinn das Hinhören gefragt ist, das auf den anderen Schauen, das Wahrnehmen der kleinen Schwingungen, der kleinsten Töne. Wo dann Melodien entstehen, die es ein paar Minuten zuvor noch gar nicht gegeben hat. Mitte 40 hat Stefan Noelle angefangen, Liedtexte zu schreiben, poetische und eben leise. "Dieses Lied ist von allen das Kleinste", singt er in einer Ballade, "es will gar nicht das Größte sein." Text und Musik passen zu Noelle.
Das Feine kann im Kleinen wachsen und größer werden - wie so oft im Studio Ackermann.