Tassilo:Gemeinsame Geschichte

Blanka Wilchfort und Marlies Poss verbindet nicht nur die Bildhauerei, mit ihrer Kunst erinnern sie auch an die Opfer der NS-Diktatur

Von Jutta Czeguhn

Die erste Kontaktaufnahme zwischen den Künstlerfreundinnen war eine eher spröde Angelegenheit. Um so mehr Spaß scheinen die beiden zu haben, wenn sie heute davon erzählen. Blanka Wilchfort: "Ich bin am Telefon sehr sperrig gewesen, du wolltest unbedingt vorbeikommen und dir meine Kunst ansehen. Ich dachte, ich kenn' die gar nicht, vielleicht ist die mir unsympathisch und hab' dich auf meine Website verwiesen." Natürlich hat sich Marlies Poss damals nicht so einfach abspeisen lassen, natürlich hat sie Wilchforts Obermenzinger Atelier besucht. "Vor 20 Jahren war das, seitdem leidet sie unter mir", lacht Poss. So entspann sich ein Band der Freundschaft.

Man trifft die Bildhauerinnen im Hof vor dem Pasinger Standesamt. Sie sitzen auf einer Bank in der Sonne. Wie zwei Buchdeckel, zwischen denen eine gute Geschichte liegt. Die 1,5 Meter Mindestabstand halten sie selbstverständlich treulich ein. Eine große Nähe ist spürbar, obwohl die Frauen unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine, Wilchfort, rotes Haar, Lippenstift. Poss, asymmetrische Frisur mit vorwitziger grauer Strähne, Turnschuhe. "Meine liebe Freundin hier ist strukturierter, kann Dinge auf den Punkt bringen, ich bin mehr assoziativ", sagt Marlies Poss. "Und sie ist diejenige, die mehr nach außen geht, anschiebt, ich hingegen bin so gerne mit mir alleine im Atelier", ergänzt Wilchfort. Dass man über ihr Lebenswerk - was für ein gewichtiges Wort - berichten will, scheint diesen weltklugen, kritischen Frauen angemessen, ja konsequent zu sein. Sie sind beide über 70, Großmütter, haben viel erlebt und geschaffen, und sie stecken mitten in einem großen Projekt. 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Eine gemeinsame Arbeit, die für Wilchfort und Poss in den vergangenen Jahren große Bedeutung bekommen hat, wird nun im Festjahr einmal mehr eine besondere Rolle spielen.

Tassilo: Der "gebeugte leere Stuhl": Mit dem Mahnmal - hier am Pasinger Rathaus - wollen die Künstlerinnen die Erinnerung wach halten an die jüdischen Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden.

Der "gebeugte leere Stuhl": Mit dem Mahnmal - hier am Pasinger Rathaus - wollen die Künstlerinnen die Erinnerung wach halten an die jüdischen Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Um die Ecke vom Pasinger Standesamt: Das Skelett von einem Stuhl balanciert in über vier Metern Höhe auf zwei schwarzen, dünnen Stahlstangen, wie eingefroren in einer merkwürdigen Kippbewegung. Die filigrane Skulptur steht ganz dicht an der Ostwand des alten Pasinger Rathauses. Trotzdem wahrt sie Abstand zu diesem wuchtigen Bau, der 1937 mit viel Nazi-Pomp, Hakenkreuzen und Hacken-Zusammenschlagen eingeweiht worden war. Exakt an diesem Ort, am Durchgang zum neuen Bürgerzentrum, wollten die beiden Künstlerinnen ihr Mahnmal haben, das an die Vertreibung und Ermordung der Pasinger Juden erinnert. Am 27. Januar 2015, dem Tag, an dem alljährlich der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird, wurde der "gebeugte leere Stuhl" eingeweiht. Und all die vergessenen Schicksale, von Pasingern wie Emil Neuburger, Albert Lehmann oder Helene Regensteiner, die Mitglieder einer Geschichtswerkstatt zuvor für eine beeindruckende Ausstellung zusammengetragen hatten, bekamen nun Sichtbarkeit im Stadtraum. Der Stuhl, auf dem niemand sitzen kann, steht als Symbol für das Fehlen dieser Menschen. Wer mehr über sie erfahren will: Ein Schild mit einem QR-Code verweist auf eine digitale Datenbank.

Eine junge Frau, drei Kinder im Schlepptau, läuft zögernd am Mahnmal vorbei, schaut irritiert auf den Zettel in ihrer Hand, dreht um. Scheu fragt sie nach dem Passamt. Poss lächelt und deutet auf die automatischen Glastüren des Bürgerzentrums. Der Stuhl, sagt Blanka Wilchfort, nehme auch zu diesem neuen Takt des Rathauses, zum Heute Bezug: "Die Menschen beantragen dort ihre Ausweise, lassen ihren Aufenthalt verlängern, es geht um Staatsbürgerschaft und um Vertreibung."

Tassilo: Betrachtet die Dinge aus verschiedenen Perspektiven: Blanka Wilchfort.

Betrachtet die Dinge aus verschiedenen Perspektiven: Blanka Wilchfort.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Was die Künstlerinnen damals bei ihrer ersten Begegnung in Wilchforts Atelier noch nicht wussten: Sie kommen beide aus jüdischen Familien. Wilchforts Eltern stammten aus Polen, ihre Mutter hat das Warschauer Ghetto überlebt, versteckt in einem Keller auf der "arischen Seite". Ihr Vater kämpfte in der polnischen Armee, geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, wo es ihm gelang, als Jude unerkannt zu bleiben. Auch Marlies Poss, die anders als ihre Freundin nicht in München, sondern in Hamburg aufwuchs, erzählt von sogenannten U-Booten in ihrer Familie. Menschen, die den Nazi-Mördern entkamen, weil sie versteckt wurden. In Wilchforts Kindheit war das Grauen präsent: "So viel Trauer, Erstarrung, Angst, dieses Eingesperrtsein in sich selbst, traumatisierte Menschen, die sich verkrampft an ihren Wurzeln festhalten." Ihr Jüdischsein, sagt sie, sei mit viel Schmerz und Bitterkeit verbunden gewesen. "Deshalb wollte ich dazu gehören zur Mehrheitsgesellschaft, sein wie alle die anderen, nicht das jüdische Mädchen in der Schule sein." Im Gegensatz zu Freundin Marlies habe sie keine jüdische Religiosität entwickeln können.

In Marlies Poss' Familie herrschte Schweigen. "Ich bin nicht sehr jüdisch erzogen worden, es ist verdrängt worden. Ich habe erst sehr spät angefangen zu recherchieren, wie meine Familie mütterlicherseits zum Teil überlebt hat", erzählt sie. Anders als Blanka Wilchfort ist Poss auf der Suche nach einem Ort, wo sie als Jüdin ihre Religiosität leben, Wurzeln schlagen kann. Sie findet diesen Ort in München, hier engagiert sie sich in der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom und bei Chaverim, dem Freundeskreis zur Unterstützung des liberalen Judentums in München.

Tassilo: Experimentiert gerne mit Materialien: Marlies Poss.

Experimentiert gerne mit Materialien: Marlies Poss.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Für beide Frauen ist Kunst ein Weg, Unsagbares auszudrücken, Unsichtbares sichtbar zu machen. Marlies Poss arbeitet zunächst als - einzige - Industrie-Designerin bei Siemens, später belegt sie das Fach Kunsterziehung an der Akademie der Bildenden Künste in München. Blanka Wilchfort studiert Psychologie und Philosophie, macht auch eine Therapieausbildung. Sie lernt, die Dinge von verschiedenen Perspektiven aus zu betrachten. Später im Studium an der Münchner Kunstakademie und dann in der Bildhauerei wird sie dieses Umkreisen einer Sache, eines Gedankens zur Methode machen. "Was unsere Kunst verbindet: Sie bewegt sich an der Grenze zum Figürlichen", sagt Blanka Wilchfort. Beide experimentieren mit Materialen, mit archetypischen Formen, Verwandlungsprozessen, geben ihren Werken die Freiheit zum Nachklang. So bekommt man den Torso aus den Hüllen von Zikaden nicht so leicht mehr aus dem Kopf, den Marlies Poss vergangenes Jahr bei einer gemeinsamen Schau in der Pasinger Himmelfahrtskirche gezeigt hat.

Der "gebeugte leere Stuhl" der beiden Künstlerinnen steht mittlerweile in Gräfelfing, Pasing und Obermenzing. Zum Jubiläum 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland wollen sie, so es die Pandemie zulässt, dass viele Menschen am Stuhl zusammenkommen und diskutieren, vor allem junge Menschen. Und sie arbeiten daran, weitere Exemplare ihrer Skulptur aufzustellen. Planegg sei interessiert, Schwabing womöglich. Einen zentralen Ort wünschen sie sich für den Stuhl, sichtbar, unverrückbar. "Er müsste im Grunde wie ein stämmiger Baum da stehen", sagt Blanka Wilchfort. Und Marlies Poss nickt.

Wenn Sie eine Kandidatin oder einen Kandidaten vorschlagen wollen, schreiben Sie bitte bis 30. April eine E-Mail an tassilo@sz.de.

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