In ihrem Schlafshirt, so betont sie es mehrere Male, sitzt die Schriftstellerin – und mit mehr als 660 000 Followern auf Instagram muss man es dazu sagen – Influencerin im voll besetzten Carl-Orff-Saal des Münchner Fat Cat auf der Bühne. Hinter ihr ein Lampenschirm, neben ihr ein kleiner Tisch mit Blumenvase und eine Glückskastanie im Topf. Mehr als zwei Stunden wird Tara-Louise Wittwer an diesem Mittwochabend aus ihrem am soeben im Knaur-Verlag erschienenen Buch „Nemesis' Töchter“ lesen. Sie wird sich nach der Pause dafür entschuldigen, dass sie die geplante Zeit für die erste Hälfte überzogen hat, dann wird sie zwinkern und sagen: „Die Rebellion beginnt im Kleinen.“
Wenn man nicht wüsste, dass die Bestseller-Autorin Tara-Louise Wittwer auch unsicher ist, chronischen Stress hat, sich Sorgen um ihren kranken Vater und ihr stolperndes Herz macht, dann würde man denken, vor einem sitzt der selbstbewussteste Mensch auf der ganzen Welt. Wittwer liest, Wittwer lacht, Wittwer hält inne und erzählt Anekdoten aus ihrem Leben. Dabei plagen auch Wittwer Selbstzweifel. Im Vorgespräch hat sie über den Druck gesprochen, auch mit „Nemesis' Töchter“ auf den Bestseller-Listen landen zu müssen. Zwei Tage vor der Show war sie notfallmäßig mit Herzstolpern beim Arzt. „Die erste Show ist nie gut“, sagte sie beinahe entschuldigend.
Auf der Bühne merkt man von ihrer gesundheitlichen Abgeschlagenheit nichts. Die Nähe, die sie in ihren Videos zu ihren Followern herstellt, ist auch im großen Carl-Orff-Saal zu spüren. Eine vierte Wand scheint es nicht zu geben.

Lesungen in München:Die Literatur-Highlights im Herbst
Von Caroline Wahl bis Ian McEwan, von Rita Falk bis Christopher Clark: Zahlreiche prominente Schriftstellerinnen und Schriftsteller stellen ihre neuen Romane, Krimis und Sachbücher im Herbst im Literaturhaus, bei der Münchner Bücherschau und andernorts vor. Ein Überblick.
Im Fokus dieser Lesung steht die weibliche Wut, der Wittwer ein gesamtes Buch gewidmet hat. Dabei meint sie nicht die individuelle Wut, sondern eine über Generationen vererbte, dem weiblichen Geschlecht innewohnende Wut – die sogenannte female rage. Diese Wut bezieht sich vor allem auf den Mythos, dass Frauen mit Liebe und Karrierechancen belohnt werden, wenn sie leise und angepasst sind, und dass sie bestraft werden, wenn sie die eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen. „Ich habe mich lange für meine Wut geschämt“, sagt Wittwer im Vorgespräch. Jetzt sei Schluss damit.
Dass Wittwer das Patriarchat in seine Einzelteile zerlegt und alltagsnah erklärt, warum Feminismus nicht nur cool, sondern unverzichtbar ist, kennt man aus ihren ersten beiden Büchern, „Sorry, aber ...“ und „Dramaqueen“. „Nemesis' Töchter“ liest sich nicht wie eine Fortsetzung dessen, sondern wie ein erster Teil, den man vermisst hat, ohne es zu wissen.
Wittwer blickt in ihrem neuen Buch hunderte Jahre in der europäischen Geschichte zurück, ihr Fokus ist die Hexenverfolgung. „Nemesis' Töchter“ ist auch wegen dieses historischen Rahmens weniger selbstreferenziell, obwohl sie mehr von sich selbst preisgibt. Sie schreibt darüber, wie sie als Jugendliche alles getan hat, um von Jungs gemocht zu werden, und sie beschreibt das einst schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter, „die auch ein Mensch und nicht nur Mutter ist“. Daraufhin gibt es Applaus für all die Mütter im Publikum.
Im Publikum sitzen vor allem Frauen zwischen 20 und 35
Zwischendurch blendet Wittwer auf einer Leinwand Videos ein, die sie auf Instagram gepostet hat. In einem Video spricht ein Mann darüber, warum er keine Frau über 30 daten kann. „Ab 35 werden Frauen unsichtbar, habe ich gehört“, sagt sie. „Sagt mal, seht ihr mich?“ Das Publikum lacht, und so schafft es Wittwer mit einer Mischung aus Humor und Ernst, ihren Standpunkt zu vertreten und gleichzeitig ihr Buch zu vermarkten. Das wird in der Pause verkauft, die Schlange ist lang.
An den Tischen, auf denen kleine Snacks von einem Werbepartner Wittwers ausliegen, stehen vor allem junge Frauen. Die Anzahl der Männer, die sich Wittwers Show anschauen, kann man an zwei Händen abzählen. Einer davon ist Lukas. Seine Freundin hat ihn zum Feminismus gebracht, was Wittwer schreibt, bringt ihn zum Nachdenken. Manchmal, so sagt er es, müsse er nun schlucken, wenn er hört, wie seine Arbeitskollegen über Frauen sprechen. „Feminismus kann man, glaube ich, erst verstehen, wenn man sich wirklich damit auseinandersetzt“, sagt er. Seinen Nachnamen möchte er dann doch lieber nicht sagen. Die Arbeitskollegen.
Wittwer beendet die Show mit dem Satz, dass sie dieses Buch nicht geschrieben habe, weil sie Männer hasse, sondern weil sie Frauen liebe. Sie sagt: „Für jede Frau. Immer.“ Es wirkt fast gestellt, dass einer der wenigen Männer im Publikum beim Applaudieren als Erstes aufsteht. Wittwer wird sich darüber wohl gefreut haben, denn genau das ist ja Feminismus: für Frauen bedeutet nicht gegen Männer.

