Tanzwerkstatt Europa 2024Europa im Tanz vereint

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Kontemplation über die Zukunft des menschlichen Körpers: Raquel Gualtero „Panorama“.
Kontemplation über die Zukunft des menschlichen Körpers: Raquel Gualtero „Panorama“. (Foto: Alice Brazzit)

Der Körper im Krieg, die Kraft der Berührung und Mut zum Blödsinn – wie die Tanzwerkstatt Europa nach der Kunst des Zusammenlebens fragt.

Von Sabine Leucht

Als Walter Heun 1991 die Tanzwerkstatt Europa ins Leben rief, schmückten sich gerade alle Festivals mit dem Label „international“. Europa war noch ein ganz anderes Gebilde. Aber schon das Präfix „inter“ in „international“ schien eine Schneise zwischen die Künstler und Werke zu schlagen. So jedenfalls erklärt Heun die Namensgebung rückblickend. Und das Verbindende ist bis heute ein Merkmal des allsommerlichen Treffpunkts der zeitgenössischen Tanzszene in München. Heun nennt es „Gastfreundschaft“, gepaart mit der Haltung, „dass man von Andersdenkenden etwas lernen kann“. Am besten über das, was Menschen auf der ganzen Welt beschäftigt: Spielen, Nachdenken, Liebe, Krieg, Geburt und Tod.

„Wie können wir zusammenleben?“, ist denn auch der Titel einer wissenschaftlich-künstlerischen Zwitter-Veranstaltung, die am 4. August von 16 bis 18 Uhr bei freiem Eintritt im Schwere Reiter stattfindet. Die in Tel Aviv lehrende Philosophin Ofra Rechter ist die Enkelin der Schauspielerin Hanna Maron, die als Kinderstar in der Weimarer Republik und später in Israel verehrt wurde, bis sie 1970 bei einem palästinensischen Anschlag auf den Flughafen München Riem ein halbes Bein verlor. Ausgehend von der Biografie dieser Pazifistin und Befürworterin der Zwei-Staaten-Lösung geht es an diesem in Kooperation mit dem Münchner Kulturreferat konzipierten Nachmittag um Erinnerung und mögliche Wege in die Zukunft. Mit Rechters Worten, choreografischen Interventionen von May Zarhy und einem Open Mic für alle.

Das Herzstück der Tanzwerkstatt sind die Workshops, flankiert von heuer neun Performances, inklusive der Workshop-Abschlusspräsentation am 9. und zuvor der „Open Stage“ am 5. August. Für diese niedrigschwellige Plattform für Newcomer sind diesmal 120 Bewerbungen eingegangen. Auf die wenigen Auserwählten darf man gespannt sein.

Zärtliche Berührungen

Machte schon vor einem Vierteljahrhundert Furore: Mit Felix Ruckerts Performance „RING“ wird das Festival in der Muffathalle eröffnet.
Machte schon vor einem Vierteljahrhundert Furore: Mit Felix Ruckerts Performance „RING“ wird das Festival in der Muffathalle eröffnet. (Foto: Jessa Bloom)

Die meisten Tänzer auf einmal, nämlich 21, sieht man in Felix Ruckerts Eröffnungsperformance „RING“ in der Muffathalle. Es ist die Wiedereinstudierung eines Erfolgsstücks, das vor einem Vierteljahrhundert international für Furore sorgte. Dieser „RING“ hat weniger mit Richard Wagners Mammutwerk als mit Schnitzlers „Reigen“ zu schaffen. Beim Probenbesuch scheint es fast zu sein, als trieben in der Musik von Ulrike Haage und Christian Meyer vereinzelte Passagen aus Ravels „Bolero“ herum; und die Wiederholung wie Schnitzlers „Bäumchen-wechsel-dich“ sind zentrale Motive des immersiven Abends. Wer sich bei den Vorstellungen am 30. und 31. Juli auf den inneren Stuhlkreis setzt, wird von einer Reihe von Tänzerinnen und Tänzern heimgesucht. Wer keine Berührungen mag, wählt besser einen anderen Platz. Sie sind nicht persönlich, aber durchaus zärtlich: Eine Hand streicht über eine Wange, ein Kopf landet an einer Brust; auch die Zuschauerhand wird geführt oder der ganze Körper. Alles ganz sanft, manches beiläufig, aber schon beim Zuschauen wird klar, welch Ausnahmeerlebnis diese kurze Zuwendung in diesen noch immer berührungsarmen Zeiten bietet.

Solo zum Mittanzen

Solo mit Live-Musik: Meg Stuart und Jazzbassist Doug Weiss in „All the Way Around”.
Solo mit Live-Musik: Meg Stuart und Jazzbassist Doug Weiss in „All the Way Around”. (Foto: Iris Janke)

Hier ist Lockerlassen angesagt! Beim Finale von Meg Stuarts „All the Way Around“ kann man vielleicht sogar mittanzen. Die international gefeierte Choreografin ist in München wohlbekannt. Ihr Solo, begleitet vom Jazzbassisten Doug Weiss und der Pianistin Mariana Carvalho, verspricht eingefleischten Fans Erinnerungstrigger an große Stuart-Abende wie „Disfigure Study“ und „Blessed“. In kleinen, intimen Aufführungen wie diesen können aber auch neugierige Tanz-Frischlinge quasi in a Nutshell ganz pur den Reichtum des zeitgenössischen Tanzes erkunden. Ruckerts Alleinstellungsmerkmal etwa ist die „Choreografie auf der Haut“, Stuart dekonstruiert und fragmentiert den Körper und seine Bewegungen. 

Die Welt zerfällt

Unrettbar allein: Von der Münchner Choreografin Ceren Oran kommt die Uraufführung „Shard“.
Unrettbar allein: Von der Münchner Choreografin Ceren Oran kommt die Uraufführung „Shard“. (Foto: Sebastian Lehner)

Die Uraufführung „Shard“ der Münchner Choreografin Ceren Oran nimmt Bezug auf die Partikel, in die die Welt nach traumatischen Erfahrungen zerfällt. Nichts ist mehr wie zuvor, man ist markiert, fühlt sich unrettbar allein. Diese Themensetzung geht auf eine persönliche Erfahrung Orans zurück. Die Tänzerin Jovana Zelenovic verwandelt sie in Hochspannungstanz vom Feinsten. Dunkel, aber sicher nicht ohne Hoffnung (2. und 3. August).

Die innere Haltung

Vier Kriege überstanden: Bassam Abou Diab und sein Stück „Under the Flesh“.
Vier Kriege überstanden: Bassam Abou Diab und sein Stück „Under the Flesh“. (Foto: Dmitrij Matvejev)

Mit drei weiteren Soli mutiert die Tanzwerkstatt fast zum Solo-Festival. Bassam Abou Diab kommt vom Sprechtheater und hat in Omar Rajehs Kompanie Maqamat Bassam getanzt. Am 3. August packt er in „Under the Flesh“ die innere Haltung und die Bewegungen auf die Bühne des HochX, mit deren Hilfe sein Körper vier Kriege überstanden hat. Damit setzt er den immer abstrakt bleibenden täglichen Nachrichten etwas Einmalig-Konkretes entgegen – und der Katastrophenstimmung Humor.

Die Zukunft des Körpers

Die katalanische Tänzerin und Choreografin Raquel Gualtero lädt in „Panorama“ zur gemeinsamen Kontemplation über die Zukunft des menschlichen Körpers ein. Ihr Solo wird am 31. Juli und 1. August erstmals im deutschsprachigen Raum zu sehen sein. Und kontemplativ klingt auch das, was Alma Söderberg in „New Old“ macht: Auf einem Stuhl sitzend hört sie Klängen zu und denkt über den alternden Frauen- und Mutterkörper und das Wort „Pussy“ nach.

Mit Witz und Charme

Spiele und Regeln: Ingrid Berger Myrhes „Spelling Spectacle“.
Spiele und Regeln: Ingrid Berger Myrhes „Spelling Spectacle“. (Foto: Tale Hendnes)

Mit Witz und Charme locken zwei Drei-Personen-Stücke aus Belgien: Ingrid Berger Myrhes „Spelling Spectacle“ (4. 8.) und Ayelen Parolins „Simple“ (6. 8.). Der erste Abend demonstriert in Echtzeit, was passiert, wenn man in einem Spiel zu streng den Regeln oder den persönlichen Eingebungen folgt: kann beides turbulent schiefgehen! Der Trailer von „Simple“ hingegen zeigt drei Performer, die in bunt gefleckten Ganzkörpertrikots hüpfen, stampfen, die Arme heben und dabei sehr glücklich wirken. Hingabe statt Expertentum, Mut zum Blödsinn? Versprochen ist ein „Stück voll dadaistischer Inspiration“. Mal schauen, was sich daraus lernen lässt.

 Tanzwerkstatt Europa, 30. Juli bis 9. August, Muffathalle, HochX, Schwere Reiter, www.jointadventures.net

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