Dance 2023:Der Tanz ist in der Stadt

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Zurück in der alten Heimat: Richard Siegal und sein in München gegründetes "Ballet of Difference" mit dem Stück "Triple". (Foto: Thomas Schermer)

Mehr als zwanzig Produktionen - von Kanada über Osteuropa bis Taiwan - sind eingeladen zur Münchner Tanzbiennale Dance. Warum diese Festival-Ausgabe besonders schillert.

Von Sabine Leucht

Sechs thematische Schwerpunkte und mehr als zwanzig Produktionen, elf Tage lang live an den Tanzorten der Stadt. Hatte Dance-Kuratorin Nina Hümpel vor zwei Jahren noch beteuert, auch nach dem Lockdown an Online-Formaten festhalten zu wollen, regiert nun die Lust am prallen "Here and Now". Das alle zwei Jahre stattfindende Festival ist diesmal sogar besonders reich bestückt, weil vieles (wieder) auf dem Plan steht, das 2021 coronabedingt nicht gezeigt werden konnte. Ein Fest für Hümpel, deren sechste Ausgabe von Dance zugleich ihre letzte ist. Auch mit dem Lockdown selbst setzt sich noch eine Produktion auseinander: Mathilde Monniers "Records", das dem Warten und dem Gefühl der Leere Komik und Wahnsinn abringt.

München als Wiege des modernen Tanzes

Mit Spannung erwartet: Die Uraufführung von "Rabbit Hole", der neuen Choreografie des Münchners Moritz Ostruschnjak. (Foto: Alfred-T. Palmer)

Kann das stimmen: München als Wiege des modernen Tanzes? Wer 2019 bei der Dance-History-Radtour dabei war, dem schwirrt noch jetzt der Kopf von den Namen all derer, die hier nach dem Gastspiel von Isadora Duncan 1902 mit ihren Schleier-, Ausdrucks- und Barfußtänzen sensible Gemüter erregten. Nach der Online-Version 2021 im letzten Festival gibt es die History Tour heuer als Spaziergang auf drei Routen - mit Archivbesuchen, Gesprächen, Liveperformances und Reenactments in den Original-Räumen, in denen Tanz in den Jahren 1900 bis 1918 stattgefunden hat.

Neben dem Lenbachhaus und der Villa Stuck sind jetzt auch die Glyptothek und die Monacensia dabei. Und Tänzer des Bayerischen Junior Balletts. Dass die Tanzstadt München auch heute noch leuchtet, beweist die Uraufführung von Moritz Ostruschnjaks "Rabbit Hole" zur Eröffnung von Dance. Ein jüngerer Choreograf aus der Landeshauptstadt, dessen Arbeiten den Menschen im digitalen Zeitalter in den Blick nehmen und tänzerische Virtuosität mit Street Credibility verbinden.

Fokus auf Montreal

Die kanadischen Künstler Andrew Tay und Stephen Thompson zeigen mit "Make Banana Cry" eine subversive Catwalk-Show. (Foto: Manuel Vasson)

Vor "Rabbit Hole" in der Muffathalle kann man noch bequem Catherine Gaudets Stück "The Pretty Things" im Fat Cat, dem früheren Carl-Orff-Saal sehen. Es ist Teil des Länderschwerpunkts Montréal, einem der lebendigsten Hot Spots des zeitgenössischen Tanzes, inspiriert von den Bildenden Künsten und der Musik. Gaudet ist seit langem im Geschäft und hat 2022 den Grand Prix de la danse de Montréal gewonnen. Dennoch ist hier für Deutschland eine "skurrile neue Handschrift" (Hümpel) zu entdecken. Geometrisch, repetitiv - und in die vollkommene Verausgabung der Tänzer mündend.

Marie Chouinard, die man aus vergangenen Dance-Ausgaben kennt, feiert mit ihrem neuen Stück "M" Europapremiere an der Isar. Neon-bunt geht es darin zu - und geräuschvoll, weil aus Atem und Stimme rhythmische Muster gewebt werden. Humoristisch und erhellend verspricht "Make Banana Cry" zu werden, eine Catwalk-Show, in der Andrew Tay, Stephen Thompson und Co. westliche Klischees "des Asiatischen" befragen.

Politische Schwerpunkte Taiwan und Osteuropa

Der Mensch und die Natur: Die weltweite ökologische Krise verhandelt die tschechische Choreografin Vera Ondrašíková in ihrer "Witness". (Foto: Vojtech Brtnicky)

Wie viel wissen wir über andere Kulturen? Das genaue Hinschauen lohnt sich immer, umso mehr, wenn ihre Identität politisch unter Beschuss ist wie gegenwärtig in Taiwan. Mit dem Tjimur Dance Theatre ist zum Festivalende hin eine indigene Kompanie zu Gast - und zum Eröffnungstag ein Solo im öffentlichen Raum.

Aus dem zweiten politischen Brennpunkt Osteuropa stammt Vera Ondrašíkovás Arbeit "Witness" über die komplizierte Beziehung zwischen Mensch und Natur - in Prag ein Publikumsliebling. "Every Minute Motherland", das Maciej Kuźmiński mit polnischen und geflüchteten ukrainischen Tänzern kreierte, hat das Zeug zur Produktion der Stunde. Es geht um Flucht, Brüche und Verlusterfahrungen, und um Tanzen als Überlebensstrategie. Ein begleitender Dokumentarfilm erhellt die Hintergründe.

Gelegenheit für Entdeckungen geben drei junge Litauer, die sich laut Hümpel auf der Baltischen Tanzplattform in Tallin "unglaublich cool und selbstbewusst präsentiert haben". Sie kommen mit kleineren Arbeiten - und im Falle von Dovydas Strimaitis ("Hairy - 3.0" und "The Art of Making Dances") mit einer reduzierten Bewegungssprache, konkret: ausdauerndem Headbanging. Man kann ihnen aber auch auf der Straße begegnen.

Outdoor

Einladung zum 15-minütigen Protest: Die litauische Choreografin Agniete Lisickinaite erkundet mit "Hands Up" die Protestkultur in unserer demokratischen Gesellschaft. (Foto: Gintare Zaltauskaite)

Der öffentliche Raum wird bei Dance in den vergangenen Jahren immer mit bespielt. Hier wird Tanz anfassbar. Die Litauerin Agnietė Lisičkinaitė ist hier anzutreffen mit "Hands Up" - einer nur 15-minütigen Einladung zum gemeinsamen Protest. Ihr Landsmann Lukas Karvelis interagiert an einer Bushaltestelle mit Passanten, und Jody Oberfelders "Life Traveller" kann man auf den vielen Münchner Brücken besuchen. "Walking Peaces" heißen die Stücke der amerikanischen Choreografin - in einem brandneuen und umfangreicheren rund 90-minütigen Walk erkundet sie die Vergangenheit und Gegenwart des Olympiaberges ("Walking to present", hier ist eine vorherige Anmeldung beziehungsweise Ticketkauf erforderlich) .

Tanz und Digitalität

Nicht immer spielt das Wetter mit im Münchner Mai. Ab ins Deutsche Museum geht es mit der Videoinstallation "Trans Corporal Formations". Denn Dance kann auch Technik, genauer gesagt Digitalität, mit deren Möglichkeiten Tobias Staab den menschlichen Körper verändert, seine Umrisse morpht und damit zum Beispiel seine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht oder gar der menschlichen Spezies auflöst. Eine Utopie? Zukunftsmusik? Vielleicht. Aber nicht nur etwas für Nerds, auch wenn die den eigens entwickelten Algorithmus womöglich gebührender bewundern können. Die Uraufführung des Münchner Teams um Angelika Meindl, Tobias Gremmler und Thomas Mahnecke "Tracing the negative Space" bringt Live-Tanz mit digital bearbeitetem zusammen und zeichnet dabei Bewegungsspuren auf, die auf die Wände projiziert werden.

Große Namen

Eine Hommage an den großen Raimund Hoghe, der vor zwei Jahren während des Dance-Festivals starb, wird der "Evening with Raimund", den die Raimund Hoghe Company zeigt. (Foto: Rosa Frank)

Große Namen gehören immer zu Dance. Marie Chouinard ist einer davon - oder inzwischen auch Dance-Dauergast Richard Siegal, dessen am Schauspiel Köln entstandene Produktionen mittlerweile so komplex sind, dass sie in seiner alten Heimat München nur noch im Prinzregententheater gezeigt werden können ("Triple", "Xerrox Vol. 2"). Aber auch William Forsythe und Raimund Hoghe sind dabei. Hoghe ist im Mai 2021 überraschend verstorben, als er bei Dance zum Gespräch über sein kurz zuvor mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnetes Werk erwartet wurde. Nun setzen sich langjährige künstlerische Weggefährten des Düsseldorfer Choreografen wie Luca Giacomo Schulte und Emmanuel Eggermont neu mit Hoghes formalem Minimalismus, seiner Menschenfreundlichkeit, seinen Lieblingsmusiken und seinem politischen Engagement in Beziehung. Ein Schmankerl verspricht auch Tony Rizzis getanzte Erinnerung an die Arbeit mit William Forsythe zu werden.

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Flankierend zu den Performances gibt es etliche Videoinstallationen, Fotoausstellungen und Nachgespräche; aber auch eigenständige Filme sind zu sehen wie der in Kooperation mit dem Dok-Fest gezeigte Dokumentarfilm "A way to B" über eine inklusive Tanzkompany aus Barcelona und ein Diskursprogramm zum Schwerpunkt Taiwan, inklusive Ausstellung und Workshops. Hier lohnt ein Blick auf das Programm des jeweiligen Veranstaltungstages, denn das Angebot ist immens. Einige Ausstellungen zur Münchner Tanzgeschichte können auch jenseits der Dance History Tours besucht werden, wie etwa "Sacharoffs Vermächtnis" über Queerness im Tanz im Habibi Kiosk. Und am 18. Mai gibt es mit "Das Bild vom Tanz" eine Veranstaltung über Tanzfotografie und mehr im Hoch X.

Dance 2023, Do., 11. Mai bis So., 21. Mai, diverse Spielstätten, Karten und weitere Infos unter www.dance-muenchen.de

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