Tanz- und Theaterfestival Rodeo:Die Welt von morgen bauen

Rodeo

Alles im Fluss - in Micha Puruckers Kurzfilm "flying chairs" wiederholen sich Bewegungsmuster in Zeitlupe.

(Foto: Beate Zeller)

Rodeo entdeckt neue Spielorte

Von Marleen Beisheim

Das Stück bediene Klischees eines weißen Publikums, und die pakistanische Herkunft des Autors sei keine Legitimation für Islamfeindlichkeit - das sitzt. Im Poetry-Slam-Style kritisiert Ayşe Güvendiren das Theaterstück "Geächtet" von Ayad Akhtar. Seit 2016 wird dieses an den Theatern rauf und runter gespielt. In ihrer Performance "Gegensätze / gegen Sätze" aber fragt Güvendiren, warum Goethe immer hinterfragt, aber Akhtars Stück meist so unkritisch auf die Bühne gebracht würde. Sie liest Dialoge daraus vor und kommentiert diese. Güvendiren hält ein Plädoyer für ein kritischeres Draufschauen, die künstlerische Form ist jedoch etwas mühsam. Nach der Performance aber möchte man vor allem selbst gern "Geächtet" schauen und sich ein Urteil bilden.

Sich künstlerisch politischen Themen nähern und Fragen zu Diversität, sozialer Gerechtigkeit und Rassismus in den Fokus rücken - das will Rodeo 2020, das Festival der freien Tanz- und Theaterszene München. Seit 2010 findet das Festival alle zwei Jahre statt, traditionell wird eine Auswahl an geförderten Stücken gezeigt. Für die Jubiläumsausgabe wollte die neue künstlerische Leitung, bestehend aus Simone Egger, Karnik Gregorian und Bülent Kullukcu, die Stücke aus den gewöhnlichen Spielstätten holen und verteilt über den Sommer an zentrumsferneren Orten zeigen. Wegen Corona wurde das Festival allerdings komprimiert. Als Pop-up gab es im August schon Theatervorstellungen und Performances im Hasenbergl.

Den Auftakt für das richtige Festival bildete nun eine Tour durch Neuperlach, Gespräche, zwei Filme und eine Performance im Pepper Theater. Zwischen den 34 Besucherinnen und Besuchern waren coronabedingt Absperrbänder aufgespannt, ein richtiges Baustellen-Gefühl, immerhin.

Micha Puruckers im öffentlichen Raum geplante choreografische Intervention "Trajectory - pictures of the fleeting world" hätte perfekt in das Konzept von Rodeo gepasst: Kunst und die Stadtgesellschaft zusammenbringen. Wegen Corona wurde die Intervention in zwei Filme abgewandelt. Eine pink-rote Plakatwand mit Erdfunkstellen, oben rechts steht schwer erkennbar "significant moment". Im siebenminütigen Film "inner.ober.land" betrachten rot gekleidete Personen das Plakat, und man fragt sich, was sie sich fragen. Im Rhythmus experimenteller elektronischer Musik von Robert Merdzo reihen sich die Einzelbilder von Hinterköpfen mit Kopfhörern, Kapuzenpullover und Regenschirmen aneinander und werden bedeutsam. Zu was sie genau werden, bleibt offen. Puruckers Ausgangsfrage schwingt mit: Von welchem Moment an transformiert sich der Hintergrund zum Vordergrund, wann beginnt sich eine Form herauszuschälen?

Diese Frage gilt auch für den Kurzfilm "flying chairs". Verena Rendtdorff, Anise Smith und Andrea Werner bewegen sich auf, unter und mit Stühlen. In Slow Motion fließen ihre Bewegungen ineinander und schaffen ein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum. Die Stühle kippen, liegen, richten sich wieder auf - die Schwerkraft wird scheinbar aufgebrochen. Langsam wird klar, dass sich die Bewegungsmuster wiederholen, 25 Minuten lang. Bevor es langatmig wird, ändert sich etwas. Die Aufnahmen wechseln zwischen schwarz-weiß und lebensecht, scharf und verschwommen, bis nur noch Farbspiele zu sehen sind, die sich im nächsten Moment zu menschlichen Bewegungen verwandeln. Vielleicht werden sich in den kommenden Wochen bei Rodeo 2020 aus den Baustellen der Stadt und der Menschen auch Utopien entwickeln, oder andersherum.

Rodeo 2020 - Baustelle Utopia, bis 1. November, Tickets und Streams auf www.rodeomuenchen.de

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