Tanz:Sehnsucht nach Theaterzauber

Das Bayerische Staatsballett eröffnet seine digitale Ballettfestwoche mit einer Uraufführung von Andrey Kaydanovskiy. Der junge russische Choreograf ist dabei gleichzeitig ästhetisch radikal und reaktionär

Von Rita Argauer

Vom Bühnenhimmel rieselt der Schnee. Die Tänzergruppen, bewegen sich aufeinander zu, in Reihen von links und rechts aus den Kulissen heraus. Sie finden sich in Paaren in der Mitte. Ein schöner Reigen beginnt, jedes Paar für sich, vorne die Solisten. Eine opulente Theaterszene, die da den Beginn des zweiten Akts von Andrey Kaydanovskiys "Der Schneesturm" eröffnet. Ganz klassisch ist das - zumindest die Mittel, die der russische Choreograf, der hier an einer Uraufführung für die Eröffnung der digitalen Ballettfestwoche des Bayerischen Staatsballetts arbeitet, benutzt. Denn die Tänzerinnen tragen weder Spitzenschuhe noch stehen sie klassisch strebende Arabesken. Die Tanzsprache und die Bewegungsqualitäten in Kaydanovskiys Choreografie sind modern, zeitgenössisch. Sie holen den klassischen Theaterzauber ins Jetzt.

"Ich bin ein Theatermensch", sagt Kaydanovskiy. Er, Sohn eines Schauspielers und einer Balletttänzerin, sei mit dem Handlungsballett aufgewachsen. Mit den Klassikern, mit dem Bolschoi-Theater, aber auch das Sprechtheater habe ihn sehr interessiert: "Ich mag es, konkret an die Dinge heranzugehen." Das macht Kaydanovskiy, der vor zwei Jahren in München schon das Film-Noir-inspirierte Kurzstück "Cecil Hotel" kreiert hatte, nun im großen Stil. Die Vorlage: Eine Puschkin-Novelle. Die Umsetzung: klare Sprache, klare Musik, die extra für dieses Projekt vom Komponisten Lorenz Dangel geschrieben wurde. Die Ästhetik: trotz des so alten, narrativen Anspruchs absolut zeitgemäß.

BAYERISCHES STAATSBALLETT

Große Gruppenszenen, modernes Bewegungsmaterial: Andrey Kaydanovskiy greift in seiner Choreografie, der Puschkins Novelle "Der Schneesturm" als Vorlage dient, in die Vollen der Tanzgeschichte.

(Foto: Katja Lotter)

Doch wie bekommt man das zusammen? Etwas, dass bei den Avantgardisten und Dekonstruktivisten des 20. Jahrhunderts absolut verpönt war - nämlich der erzählerische Anspruch des großen Ganzen und die klaren Botschaften - mit den Bewegungsstilen und Erkenntnissen dieser Avantgarde zu verbinden? "Da bin ich noch am suchen", sagt Kaydanovskiy. Trotz der Eindeutigkeit bedeute das nicht zwangsläufig, dass es oberflächlich werde. "Solche Geschichten haben dieselbe Tiefe wie die Choreografien, die sich nur mit der Materie, also dem tanzenden Körper beschäftigen", sagt er.

Also zum Inhalt. Puschkins "Der Schneesturm" entstand in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts, während einer Cholera-Epidemie und wurde 1831 veröffentlicht. "Puschkin ist ein Klassiker, den man gut lesen kann", sagt Kaydanovskiy. Keiner, der ewig die Hände seiner Protagonisten auf einem Tisch beschreiben würde, oder ganz langsam eine innere Entwicklung abbildet. Wenn Kaydanovskiy das beschreibt - lustig, ein bisschen verschroben streicht er dabei über den Tisch - muss man lachen, denkt an Tolstoi und weiß, was er meint. Puschkin erzählt schneller, direkter, filmischer. Im "Schneesturm" verliert sich das Liebespaar Vladimir und Marja in einem Schneesturm, was aber auch metaphorisch ist. Denn sie finden auch vorher nicht recht zusammen: Vladimir entspricht nicht Marjas gesellschaftlichem Stand. Die geheim verabredete Hochzeit der beiden scheitert. Marja findet Jahre später eine neue Liebe in einem neuen Frühling. Dazwischen gibt es noch einen Krieg und den Tod der ersten Liebe Vladimir. "Es ist Wahnsinn, wie Puschkin diese Liebe ins Leere laufen lässt", sagt Dramaturg Serge Honegger. Kaydanovskiy stimmt zu. "Die Geschichte ist super. Kurz, knackig mit einem Twist. Eine klare Grundidee, ein klarer Kern." Zwei Akte sollte dieser Abendfüller in Kaydanovskiys Vorstellung haben, dazwischen Pause. Die ganze Kompanie sollte beteiligt sein.

Andrey Kaydanovskiy

Choreograf AndreyKaydanovskiy.

(Foto: Katja Lotter)

Es ist faszinierend wie sehr Kaydanovskiy diese alten Theatercodes und -formen benutzt. Wie wenig Angst er vor dem hat, was Jahrzehnte lang als reaktionär oder mindestens als zopfig galt. Ob er nicht das Gefühl hatte, sich irgendwann vom Bolschoi-Ballett abgrenzen zu müssen? "Diese Geschichten interessieren uns jetzt genauso stark wie vor tausend Jahren", sagt er, "und das wird sich auch nicht ändern". Es habe diese Zeit gegeben, in der man sich von der Geschichte befreit habe, aber der "nackte Tanz" interessiere ihn nicht. "Es geht nicht um die Choreografie, es geht ums Theater."

So positioniert sich Kaydanovskiy als ein Radikaler mit seinem Sinn fürs Narrative, auch wenn er etwas sucht, was die Theatergeschichte und Menschheitsgeschichte viel linearer durchzieht als die gebrochene und abstrakte Ästhetik der Moderne. Die Radikalität seines Ausdrucks aber spiegelt sich in seiner Arbeit. Er sucht neue Mittel für den Ausdruck einer ganz alten Tradition. Das ist keine Anti-Avantgarde, "eine neue Version vom ,Nussknacker' zu machen, ist eine Frechheit", sagt er. Er will nicht Altes für die Gegenwart aufpolieren, er sucht innerhalb der alten Formen etwas Neues. Das unterscheidet ihn grundlegend von anderen zeitgenössischen Choreografen, die sich heutzutage dem Handlungsballett widmen. Er ist weniger an der Unterhaltungsästhetik und Musical-Finesse interessiert wie ein Christopher Wheeldon. Er ist rückwärtsgewandter, komplexer, suchender als Christian Spuck. Er ist mit seinen 34 Jahren Teil einer neuen, radikalen Generation. Mit Lorenz Dangel hat er da einen ebenso so furchtlosen Komponisten gefunden. Die beiden haben sich - als Kaydanovskiy selbst tanzte - bei einem Festival in der Schweiz kennengelernt. Jetzt hat Kaydanovskiy den stilistisch sehr wendigen Dangel für seinen "Schneesturm" engagiert. "Wenn man 2021 ein Handlungsballett erschafft, muss man sich schon überlegen, wo da die Berechtigung für ein Orchester ist", sagt Dangel. Die hat Dangel für den Schneesturm gefunden. Er hat romantische, symphonische Orchestermusik geschrieben, durchwoben von statisch modernen Soundplatten, elektronischen Samples, Beats. Ein bisschen klingt das nach Kirmes, nach Stimmungsmalerei und gleichzeitig nimmt die Musik samt Orchester (das in der Uraufführung von Gavin Sutherland vom English National Ballet dirigiert wird) einen so großen Platz in dem Konzept des ganzen Abends ein, wie das eben so sein sollte, wenn man sich dieser klassischen Form mit vollem Ernst und ganzem Geist widmet.

Das Bayerische Staatsballett ist für ein solches Unterfangen eine gute Wahl. Die großen Opernhausstrukturen - von der Bühnentechnik bis zum Orchester - die es für einen solchen Abend braucht, sind da. Die Tänzer verfügen über eine exzellente Technik und kennen die Klassiker gut genug, um die Form, mit der Kaydanovskiy und Dangel spielen, zu kapieren. Die Tänzer - von Kaydanovskiy gibt es nur ein Grinsen und einen Daumen-hoch, wenn man ihn nach der Kompanie fragt - dürften Spaß an dem modernen, anarchischen Bewegungsrepertoire haben. Die Hauptrollen in der Uraufführung, die am Samstag, 17. April, um 19.30 Uhr, kostenfrei auf staatsoper.tv übertragen wird, tanzt das nach München zurückgekehrte Traumpaar Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: