Tanz:Den unkontrollier­baren Exzess tanzen

Mette Ingvartsen

Mette Ingvartsen erstellt eine Phänomenologie der Pornografie in sämtlichen Facetten mit vollem körperlichen Einsatz und intellektuellem Esprit.

(Foto: Marc Domage)

Mette Ingvartsen im Gespräch über ihre "21 pornographies", die sie bei der Tanzwerkstatt Europa in der Muffathalle aufführt

Interview von Eva-Elisabeth Fischer

Die dänische Choreografin und Tänzerin Mette Ingvartsen gibt bei der Tanzwerkstatt Europa einen Workshop und gastiert mit ihren großenteils interaktiven "21 pornographies", dem letzten Teil ihres vierteiligen Zyklus "Red Pieces". Darin reflektiert sie die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Sexualität - auch als Performerin mit vollem Körpereinsatz. Teile des Stücks können wegen Corona nur als Film gezeigt werden. Und auch der Workshop unterlag Restriktionen, da zu Mette Ingvartsens Bewegungstechniken unbedingt die gegenseitige Berührung gehört.

SZ: Haben Sie von den "Red Pieces", die international rauf und runter gespielt wurden, nicht allmählich genug?

Mette Ingvartsen: Es ist ein gewisser Sättigungsgrad erreicht. Derzeit bin ich eher mit getanzten Epidemien befasst, mit den mittelalterlichen Veitstänzen, also mit verschiedenen Formen unkontrollierter Bewegung. Mit der Recherche dazu hatte ich angefangen vor der Corona-Krise. Manchmal fallen eben die Dinge zusammen, ohne dass man wüsste, warum ... Diese Tanzbesessenheit brach im öffentlichen Raum aus und erfasste ganze Städte. Umstritten ist, was diese Tänze überhaupt waren. Einige sagen, sie entstanden aus der großen Not nach der Pest.

Was interessiert Sie an einem mittelalterlichen als Teufelswerk verschrienen Phänomen, um das sich alle möglichen Theorien ranken? Worin liegt der aktuelle Bezug?

Mich interessiert das, weil ich selbst immer so viel überschüssige Energie habe, die in Exzesse mündet, in den früheren Stücken eben in sexueller Energie. Ich wollte herausfinden, wie Bewegung durch unseren Körper geht und dann plötzlich wieder aufhört. Und dann kam Corona. Ich habe das Gefühl - und das ist möglicherweise bei allen so -, dass Bewegung durch innere Not ausgelöst wird in einer Situation, in der wir nicht wissen, wie lang sie dauern wird. Das ist genau die Frage, die uns aktuell bei Corona bewegt. Für einen Tänzer ist es schrecklich, in einem kleinen Appartement eingesperrt zu sein. Ich hatte einen derartigen Bewegungsdrang, dass ich raus musste und laufen. Insofern kann ich mir sehr gut vorstellen, wie ein unkontrollierbarer Exzess zustande kommt.

Sie haben sich sehr früh künstlerisch mit Sexualität beschäftigt. Wie kam es dazu?

Am Anfang war das ein persönliches Anliegen, denn als Teenager war ich ziemlich durcheinander, weil ich extrem männlich wirkte. Für eine Frau bin ich ungewöhnlich groß und stark und habe noch dazu kaum Busen. Ich habe meinen Körper als androgyn wahrgenommen, sozusagen zwischen den Identitäten. Wobei ich nicht sagen konnte, warum ich so oder so kategorisiert wurde. In einem meiner ersten Stücke traten wir, drei Frauen, nackt auf, trugen aber Masken von alten Männern auf dem Hinterkopf. Wir waren nur von hinten, aber nie von vorn zu sehen, tanzten also das "Weder-Noch". Danach beschäftigte ich mich erst einmal mit anderen Themen, mit der Natur, mit Naturkatastrophen, nicht-menschlichen Performern, Materialien.

Wann verspürten Sie die Notwendigkeit, den menschlichen Körper abermals in den Fokus zu rücken?

Als ich das Gefühl hatte, dass sich etwas im Verhältnis der Geschlechter verändert hatte. In den Jahren 2013 bis 2018, als ich die "Red Pieces" machte, hatte das Internet an Bedeutung gewonnen und die Grenze zwischen dem intimen, dem privaten und dem öffentlichen Raum verwischt. Seit der Kommerzialisierung des Körpers in den 1960er-Jahren rückte der nackte Körper immer mehr in den öffentlichen Raum. Und damit kam die Frage auf, was passiert mit Privatheit, nicht nur bezüglich der Sexualität, sondern als allgemeine Idee. Was bleibt übrig von meinem Recht auf Privatheit? Und was bedeutet andererseits der Überfluss an öffentlicher Intimität?

Sie exponieren sich aber selbst in Ihrer Nacktheit. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ich stelle mich nicht aus, sondern werde zum Gefäß für bestimmte Fragen, ja sogar für Geschichte. Für mich als Tochter von sehr liberalen Sechzigerjahre-Eltern ist Nacktheit etwas ganz Natürliches und weder schambesetzt noch sexualisiert. Ich achte sehr darauf, dass alles immer live passiert und auf gar keinen Fall in irgendwelchen Internet-Kanälen verschwindet. All meine Arbeiten sind darauf aufgebaut, dass man gemeinsam in einem Raum ist. Nun ist allerdings wegen Corona ein Teil des Stückes abgefilmt und nur als Projektion zu erleben.

Mit der sexuellen Revolution beschäftigen Sie sich in "69 Positions". "21 pornografies" handelt, basierend auf den Schriften des Marquis de Sade, von den dunklen Seiten der Sexualität, von Gewalt, einem Thema, das nicht nur in der "Me Too"-Debatte virulent ist. Haben Sie da einschlägige Erfahrungen?

Nein, aber ich weiß, dass das Frauen täglich passiert und dass wir das öffentlich diskutieren müssen. Insofern ist es abermals eine merkwürdige Koinzidenz, dass mein Stück genau zu der Zeit herauskam, als die "Me Too"-Debatte aufflammte.

"21 pornographies", Do, 6. 8., 21 Uhr, Muffathalle

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